Legenden sterben jung? Zum Glück nicht: Nick Cave, einer der ungewöhnlichsten Künstler unserer Zeit, feierte gerade seinen 60. Geburtstag. Viel wurde schon über ihn geschrieben, aber erst Reinhard Kleists Graphic Novel Mercy on Me eröffnet uns das Cave-Universum auf umfassende Art und Weise. Es ist erstaunlich, wie nah Reinhard Kleist uns den Künstler bringt. Durch die einfache Sprache des Comics, die innere Stimme, Kommentare, Songtexte, die klaren Dialoge und die pointierte Szenenauswahl wirkt die Erzählung tatsächlich wie ein mythisches Tagebuch. Nick Cave selbst nennt Mercy on Me „ein beängstigendes Husarenstück aus Cave-Songs, historischen Halbwahrheiten und herrlichen Hirngespinsten.“
Berlin, Hauptstadt der Sonderlinge
Die fünf Kapitel widmen sich unterschiedlichen Phasen aus Caves Leben, Lieben und Werken. Eine wichtige Rolle spielt darin auch Berlin – das (einstige) Mekka für außergewöhnliche Persönlichkeiten. Berlin war die Insel all derer, die ihren Platz in der Welt nicht finden konnten, heißt es im Comic: „Wenn die Mauer nicht wäre, wäre West-Berlin genauso spießig wie Westdeutschland. Todlangweilig!“ Der Sonderstatus der Stadt lockte eine Menge Künstler, Freaks und Außenseiter an, die nichts mehr verachteten als Mittelmaß.
Nick Cave begegnete hier den Einstürzenden Neubauten. Ihre Musik, ihre Radikalität und Haltung verhalfen ihm zu seinem inneren Durchbruch. Er ließ seinen Dämonen freien Lauf, schrieb aufwühlende Texte, trennte sich von seiner ersten Band und gründete The Bad Seeds, unter anderem mit seinem langjährigen Freund und Birthday-Party-Kollegen Mick Harvey und Neubauten-Frontmann Blixa Bargeld. Zwischen Drogenwahn und Kreativrausch, düsteren Visionen und heftigen Begegnungen erscheint seine Berliner Zeit in dem biografischen Comic als höllischer Trip – im Guten wie im Schlechten. Am Ende habe Cave Berlin „fluchtartig verlassen, die Erde dort war verbrannt.“
Die gezeichneten Biografien sind Kleists Steckenpferd. Er brachte schon großartige Comics über Fidel Castro, Johnny Cash und Elvis Presley heraus. Immer nutzt er dabei seine künstlerische Freiheit, der Realität mit Fiktion Wahrhaftigkeit, Emotion und Tiefe zu verleihen. Um die Wucht der Bilder, die einprägsamen Zeichnungen und die Kraft Nick Caves voll auszukosten, empfiehlt es sich, den Comic zu Bad-Seed-Musik zu lesen. Du begegnest den Protagonisten aus Caves Songs The Mercy Seat, Where the Wild Roses Grow oder The Hammer Song dann gleich auf mehreren Ebenen.
Frag dich also nicht, was wahr ist an diesen explosiven Geschichten aus Caves Leben, sondern lass dich ein auf den Sog und die Faszination, die seine Texte und sein innerer Punk auf uns ausüben. „Aber, nur um das noch mal klarzustellen“, kommentiert Cave die Graphic Novel abschließend: „Ich habe Elisa Day nicht getötet.“
Reinhard Kleist ist auf Lesetour und am 16. Okober 2017 im Pfefferberg Theater sowie am 11. November 2017 im Modern Graphics zu sehen. Die Graphic Novel Nick Cave: Mercy on Me