Zeitreisen fangen üblicherweise mit umgebauten Autos oder Raumschiffen an – bei Nineties Berlin läuft das Ganze anders ab. Statt in eine abgefahrene Maschine zu steigen, läufst du einen langen, engen Gang entlang. Du hörst dabei tiefe Bässe, so als ob du einen Club betreten würdest. Mit auf die Reise sollst du sogar dein Smartphone nehmen, denn per Guide Bot, kannst du bestimmen, wie viel Info du dir wo abholst. Alles was du brauchst, sind die Website und die Info-Nummern, die neben den Ausstellungsstücken zu finden sind. WLAN gibt es vor Ort.
Im ersten Raum – der auch Berlin Island genannt wird – liegen Treppen vor dir mit Sitzplätzen auf zwei geteilten „Inseln“. An der Wand läuft eine 270 Grad Multimedia-Show auf einer 55 Meter langen Leinwand ab. Der Inhalt? Es beginnt mit dem Tag vor dem Mauerfall und dann erlebst du per Fotoaufnahmen und Videos etliche geschichtliche Events. Ob nun der verhüllte Reichstag von Christo und Jeanne-Claude oder aber die Loveparade.
Die Loveparade dauert hier ein halbes Jahr
Seit dem 1. Juli hat die Technoparade sogar einen eigenen Bereich. Der Anlass für die Schau zur Loveparade ist ihr 30-jähriges Jubiläum: Am 1. Juli 1989 dröhnte Acid House über den Kurfürstendamm und 150 Westberliner*innen tanzten mit. Zehn Jahre später feierten dann 1,5 Millionen Menschen in Berlin für eine bessere Welt über die Straße des 17. Juni. Da galt sie noch als politische Demonstration. Dieser Status wurde der Loveparade zwar 2001 aberkannt, aber Fakt ist: Das besondere Event prägte nicht nur die Neunziger.
Ob du nun früher beim Raven dabei warst und noch einmal in Erinnerungen schwelgen oder das Phänomen Loveparade besser kennenlernen möchtest – noch bis zum 31. Januar 2020 hast du in der Alten Münze die Chance dazu. Zu sehen gibt es zum Beispiel Fotos und Videos vom Event, Erinnerungsstücke aus der Zeit, Portraits von Menschen, die dabeigewesen sind und natürlich Interviews mit Dr.Motte. Er ist der Erfinder und Papa der Loveparade, der die aktuelle Ausstellung auch mit umgesetzt hat. Darum trägt die Schau auch seinen Namen. Dr. Mottes Loveparade folgt als Sonderausstellung auf die Aktion Sneakers of the Nineties, bei der du über 150 Schuhmodelle bestaunen konntest, die (schon) in den 90ern Trend waren.
Was dich bei Nineties Berlin noch erwartet: Erinnerungen fernab des Geschichtsbuchs
Eine ganz persönliche Sicht auf Berlin, unmittelbar nachdem die Mauer geöffnet wurde, bekommst du im Raum Berlin Heads. Auf riesigen Monitoren werden 13 Interviews mit Zeitzeugen gezeigt, die du dir per Kopfhörer auch ganz in Ruhe anhören kannst. Besonders sind dabei die vielfältigen Perspektiven, die du zu hören bekommst, sowohl aus Ost als auch West. Ob nun die Mitbegründerin der Loveparade Danielle de Picciotto, Streifenpolizist Andreas Schlüter, Hausbesetzer Andreas Jeromin oder DJ-Ikone Westbam alias Maximilian Lenz.
So erinnert sich Picciotto, wie direkt nach dem Mauerfall in Geschäften Partys gefeiert wurden, Sven Friedrich, Gründer des Geschäfts Hoolywood – Gegenwear, berichtet von seinen Tagen in der Fußball-Hooligan-Szene und den Straßenkämpfen in der Mainzer Straße. Während Taner Bahar (Hip-Hop-Gruppe Islamic Force) von seinem ersten Pilsator im Restaurant des Fernsehturms berichtet. Somit bekommst du viel von der Alltagsrealität übermittelt, was eben nicht in Geschichtsbüchern steht und vor allem, was viele so nicht mehr erlebt haben, wie auch der Kurator des Raums Michael Geithner herausstellt. „Viele Jahre prägten die niedrigen Lebenshaltungskosten, die bunte Alternative Szene im Zentrum und die Partys an ungewöhnlichen Orten die Stadt. All das gibt es kaum noch und falls doch, befindet es sich im Überlebenskampf“, erklärt er.
Im Außenbereich der 1500 Quadratmeter großen Ausstellung soll der Besucher die Mauer auf unterschiedliche Weisen entdecken. Große Plakate an der Wand informieren darüber, wie es überhaupt zum Mauerbau kam und über eine Treppe kannst du sogar originale Mauerteile besteigen. Direkt darunter befindet sich ein Raum, der den 140 Menschen gedenkt, die zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer starben. Zu jedem Namen findest du wieder eine Info-Nummer, die dir eine kurze Biografie über die Opfer liefert, die die Staatsmacht der DDR gewaltsam ausgelöscht hatte.
Werde DJ und nimm dir ein 90er Souvenir mit
Und zum Abschluss? Es gibt einen ganz klaren Einschnitt, denn in dem letzten Raum geht es um die Underground- und Technobewegung in Berlin. Du gelangst in ein Labyrinth mit bunten Wänden und Graffitis. Das wurde übrigens von den beiden Künstlern Stefan Schilling und Gustav Sonntag gestaltet, die lange Zeit im Tacheles lebten und arbeiten. Im Labyrinth sind Touchscreens mit Lautsprechern angebracht. Es ertönt Oldschool-Electro und du erfährst mehr über die damalige Szene. So werden dir alte Flyer vom Tresor-Club gezeigt oder du erfährst mehr über das Jugendradio DT64. Dessen Moderatorin Marusha wurde zum 90er-DJ-Star und zierte viele Male die Bravo. Am Ende des Labyrinths wartet ein Spiegelsaal auf dich, wo du per interaktiver und kinderleichter Sound-Maschine selbst auflegen kannst. Zur Auswahl gibt es die Loveparade-Hymnen. Ein besonderer Kunstgriff ist, wie hier unten zu oben wird, denn die Goldelse und der Tiergarten befinden sich an der Decke, während du unten am DJ-Pult stehst. Teil der Ausstellung ist auch der angrenzende Shop, der sicherlich die ein oder andere 90er-Jahre-Erinnerung in dir weckt. Neonfarbene Bandana, Magic Worm, grinsende Smileys und Aufnäher für die Jeans sowie originale Teile der Berliner Mauer in Geschenkverpackung warten hier unter anderem auf dich.
Nachdem wir den Schritt wieder in die 2000er raus machen, haben wir das Gefühl, tatsächlich etwas Neues über unsere Stadt erfahren zu haben, so wie sie mal war. Auch wenn die Ausstellung nicht ganz so groß ist, wie wir sie uns letztendlich vorgestellt haben, merkt man, dass alle Räume vor dem Labyrinth eigene Kuratoren haben und daher der Schwerpunkt, ob nun auf geschichtliche Fakten oder persönlichere Einblicke, genauso wie die Art der Informationsübermittlung, variiert. Zudem ist das hier eine Ausstellung, wo du nicht an jeder Wand kleben musst für die Infotafeln, damit du erfährst, was du hier überhaupt siehst. Besucher*innen werden durch die Nutzung des eigenen Smartphones dazu angeregt, den Wissensdurst genau dann zu stillen, wenn er oder sie wirklich was Interessantes für sich entdeckt hat.
Die Ausstellung Nineties Berlin ist täglich von 10 bis 20 Uhr geöffnet. Erwachsene zahlen vor Ort 12,50 Euro, der ermäßigte Preis beträgt 8,50 Euro. Kinder unter sechs Jahren haben freien Eintritt. Etwas günstiger sind die Karten, wenn du sie online kaufst.
Du willst noch mehr Kultur? Wie wäre es mit einem Besuch in unseren Must-See-Ausstellungen 2019 oder in einem von Berlins ungewöhnlichsten Museen?