Pflügerstraße in Kreuzkölln

Die plötzliche Entdeckung

Lange lag die Pflügerstraße, halb in Kreuzberg, halb in Neukölln, einfach so da. Natürlich war Leben in der Straße, doch niemand, der nicht dort wohnte, interessierte sich tatsächlich für sie. Jetzt, da die Wörter Kreuzkölln und Gentrifizierung in aller Munde sind, erregt die Straße plötzlich Interesse.

Manchmal genügt ein wenig Geduld, ein Vierteljahrhundert vielleicht, und die Gegend, in der man wohnt, wird entdeckt. So geschieht es seit drei, vier Jahren im Reuterkiez in jenem Viertel der Stadt, das nun als Kreuzkölln gelabelt wird – oder als Kreuzkotze beschimpft. So sieht man es in Riesenlettern auf einem Hausdach prangen, wenn man von der Pflüger- in die Friedelstraße biegt und zum Maybachufer läuft. Die Pflügerstraße ist eine der Achsen in diesem Kiez, zum Glück auf Höhe der Nansenstraße gesperrt, sonst wäre die Lebens- bloß eine Vekehrsader: Die Autos würden vom Kottbuser Damm über die Pflüger- direkt zur Pannierstraße brettern und nicht den Umweg über Hermannplatz und Sonnenallee machen. Die Sperrung erfolgte aber nicht zur Verkehrsberuhigung, sondern wegen Einsturzgefahr.

Zu Mauerzeiten war Neukölln noch eine Kleine-Leute-Gegend

Ich zog schon vor dem Fall der Mauer in die Pflügerstraße, in jener Epoche, in der IT noch keine Branche war, sondern die Abkürzung für Innentoilette. Über eine solche verfügte meine Wohnung, sogar über den Luxus eines Badezimmers, während manche meiner Freunde morgens unter Pumpduschen in der Küche stiegen. Damals lagen Pflügerstraße und Reuterkiez noch auf der falschen Seite des Kanals. Drüben, wo jetzt das Schimpfwort auf dem Dach steht, war SO 36, und die Lehmänner von Westberlin tranken sich durch die Kreuzberger Nächte. Hüben war bloß Neukölln. Eine Kleine-Leute-Gegend, eine nahezu studentenfreie Zone, kleinstädtisch, ärmlich, aber nicht verwahrlost wie das Herz der Neuköllner Finsternis jenseits vom Hermannplatz.

In jener fernen Epoche, als Telefonhörer noch Schnüre hatten und Haustüren Durchsteckschlösser, waren die Straßenlinden mir noch nicht über den Balkon gewachsen und ließen den Blick nach gegenüber frei. Im Erdgeschoss befand sich ein – Etablissement, obwohl das, was sich da befand, den hochtrabenden Namen kaum verdiente. An heißen Sommertagen saßen nicht wegen der Hitze, sondern wegen der Freier leichtbekleidete Mädchen auf Klappstühlen vor der schwarzen Eingangstür mit der Klingel und der Sichtklappe, rauchten Zigaretten und sahen traurig aus, von oben herab betrachtet so traurig und verlassen wie Leute auf Gemälden von Edward Hopper. Ich glaube, der Eintritt kostete acht Mark, und drinnen gab es einen Cola-Automaten und gynäkologische Filme. Das war selbst für die Pflügerstraße nicht verrucht genug, und Anfang der neunziger Jahre wich der Laden einer Bäckerei, die auch nur kleine Brötchen backte und sich nicht halten konnte. Jetzt gibt es dort Büros.

Der Türkenmarkt am Maybachufer ist längst nicht mehr nur türkisch

Schräg gegenüber vom Pigalle steht auf einer Ladentür: „Nein, das ist NICHT das Kinski“. Ja, das Kinski ist direkt nebenan. Ich war nur einmal drin, bin nicht mehr jung genug. Dabei ist das Kinski eine der ältesten neuen Institutionen im Kiez. Das Kinski war schon hier, als die Künstler noch weg waren. Lange hielt ich es für einen Filmclub, nicht für einen pornografischen, sondern für einen cineastischen. Dabei ist es bloß ein Rumstehraum für Flaschenkinder, ähnlich wie der Raumfahrer, auch so eine Begegnungsstätte mit Gesprächsunterbindung durch laute Musik. Der Bäcker um die Ecke wird von türkischen Leuten betrieben, erinnert aber an ein französisches Bistro mit Baguette im Bastkorb und der typisch deutschen italienischen Kaffeeauswahl. Das Familienunternehmen vergrößerte sich nach etlichen fleißigen Jahren mit dem Restaurant Liberda nebenan.

Bis dahin verkaufte dort einer jener türkischen Gemüsehändler seine Kohlköpfe und Tomaten, die nach Meinung des in Berlin weltberühmten Genetikers Thilo Sarrazin unser arisches Deutschland mit Kopftuchmädchen überfremden. Ich trauere dem Gemüsehändler nicht nach, denn am Maybachufer gibt es dienstags und freitags den Türkenmarkt. Der ist längst auch kein rein türkischer mehr, und neuerdings ist dort samstags sogar Flohmarkt. Dass der Gemüsehändler aufgeben musste, hatte vielleicht persönliche Gründe – so ähnlich wie das Verschwinden vieler Bierkneipen, die bei meiner Ankunft im Kiez noch an jeder zweiten Ecke mit offen stehenden Türen die Tage durchdämmerten.

Die ehemals verschriene Rütli-Schule ist jetzt Gentrifizierungsgewinner

Diese Entwicklung ist nicht zu bedauern. Dennoch mündet die lange Geschichte des Aufgebens und Verschwindens bei allen „persönlichen“ Gründen in einen überpersönlichen Trend, der verschämt als „Gentrifizierung“ bezeichnet wird. Die neuen, jungen Bewohner helfen dem Kiez auf die Sprünge, und die alteingesessenen fürchten, dass die Mietpreise hinterherspringen. In der Nikodemuskirche fand schon vor zwei Jahren eine Versammlung zur Gentrifizierung statt. Auf dem „Campus Rütli“ wurde neulich eine Anwohnerdiskussion zum Thema Freiflächenbebauung ausgerichtet.

Zugleich ist die Rütli-Schule selbst ein gutes Beispiel dafür, dass früher nicht alles besser war. Die Rütlistraße geht von der Pflüger ab. Vor fünf Jahren ließen sich dort Kamerateams auf dem Schulhof gegen Bezahlung Klappmesser zeigen. Inzwischen entsteht eine privilegiert betreute Gemeinschaftsschule, die von anderen Neuköllner Schulen, die keine mediale Aufmerksamkeit genießen, beneidet wird. Ein Rütli-Förderverein organisiert auch das jährliche Straßenfest in der Pflüger, dort, wo sie durch die Sperrung glücklich geteilt ist. Die Veranstaltung heißt kalauernd „Fett de la Musique“. Fett? Das dicke Ende kommt erst noch, fürchten viele Anwohner.


Quelle: Der Tagesspiegel

Die plötzliche Entdeckung, Pflügerstraße, Berlin

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