Knut Nevermann setzt sich für die Gesundheitswissenschaften ein. Als Forschungs-Staatssekretär Berlins wies er während einer Gesprächsrunde der „Stiftung Brandenburger Tor“ die Anwesenden zurecht. Sie kümmerten sich nicht genug um das Thema „Public Health“. Dieser Jargon steht für die Gesundheit der Bevölkerung und an der mangelt es in der Hauptstadt. „Warum ist es noch immer nicht gelungen, in Berlin eine starke School of Public Health aufzubauen?“, will Nevermann wissen. „Schließlich hatte der Senat alle Hochschulen dazu aufgefordert.“
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert den Grundgedanken des Faches so: „Public Health ist die Wissenschaft und Praxis der Krankheitsverhütung, Lebensverlängerung und der Förderung psychischen und physischen Wohlbefindens durch bevölkerungsbezogene Maßnahmen.“ So müsste es eigentlich einen hohen Stellenwert haben, aber in Deutschland ist es noch immer ein Stiefkind der Medizin.
Public-Health-Kongress stellt Themen und Ergebnisse vor
Die Medizin ist schon seit langem der weithin anerkannte Eckpfeiler für das Wohlergehen des Individuums. Es ist jedoch erwiesen, dass für ein Kollektiv der allgemeine Gesundheitszustand und die Lebenserwartung von ganz anderen Faktoren ebenso sehr, wenn nicht sogar mehr, beeinflusst wird. Bei der Debatte der Stiftung Brandenburger Tor, sowie beim Kongress „Armut und Gesundheit“, der inzwischen größten Public-Health-Tagung im deutschen Raum, wurde immer wieder auf diesen Umstand hingewiesen. Dazu wurden auch einige Statistiken herangezogen.
So unterscheidet sich die Lebensdauer bei den verschiedenen Einkommensgruppen stark. Durchschnittlich elf Jahre lebt ein Mann länger, der ein sehr hohes Einkommen hat, im Gegensatz zu einem mit dem niedrigsten Einkommen. Bei Frauen beträgt der Unterschied acht Jahre. Die generelle Lebenserwartung steigt aber noch immer. Dies stünde jedoch nur zu zehn, allerhöchstens vierzig Prozent in Verbindung mit der Medizin. Mit einer Erweiterung des Public Health-Felds in Berlin könnte man die Ursachen dieser frappierenden Unterschiede untersuchen und möglicherweise beginnen, diese anzugleichen.
In den USA sind gesundheitswissenschaftliche Fakultäten (Schools of Public Health) keine Unbekannten. Sie stehen gleichrangig neben den Medizinischen Fakultäten (Schools of Medicine) und kooperieren mit ihnen. Wer könnte sich hier vorstellen, dass es in Baltimore ein Gebäude mit den Ausmaßen des Charité-Hochhauses gibt, das sich einzig und allein mit Public Health beschäftigt? Doch die School of Public Health existiert in Baltimore, wie Ex-Charité-Chef Detlev Ganten dem Tagesspiegel berichtete.
Wer fördert Gesundheitswissenschaften in Deutschland?
„Medizin und Public Health gehören zusammen“, meint Ganten, der den „World Health Summit“ in Deutschland etablierte. Er hätte gern „eine starke Berlin School of Public Health, attraktiv für die besten Fachleute der Welt“. Er freut sich, dass die Politik jetzt auch binational Druck macht: Für die deutsch-französische Forschungskooperation wurde im Februar ein Maßnahmenplan von den beiden Bildungs- und Forschungsministerien abgesegnet. Bis zum Frühling 2013 soll das „Paris-Berlin Centre of Public Health“ stehen. In Deutschland kümmert sich die Charité darum. Von französischer Seite ist es die Leopoldina.
Trotz verschiedener verstreuter „Schrebergärten“, wie Staatssekretär Nevermann Public-Health-affine Institutionen nennt, hat Public Health als Institution in Berlin noch keinen hohen Stellenwert, wie Ulrike Maschewsky-Schneider bemängelt. Sie hat den Vorstand der zwei Professuren starken „Berlin School of Public Health“ inne, die vor sechs Jahren von der TU in die Charité abgeschoben wurde. Es fehlte schlicht an Leuten, die mitmachen und mitdenken.
„Wir brauchen eine School of Public Health mit einer guten Grundausstattung, an der alle Hochschulen beteiligt sind, als Zentrum eines Netzwerks“, meint Adelheid Kuhlmey, welche die wissenschaftliche Leitung des Zentrums hat. „Notwendig ist eine grundständige Ausbildung, vom Bachelor bis zum Doktor. Dies ist eine gute Zeit für Public Health, weil der politische Wille dafür da ist.“
Keiner will ein „Kuckucksei“
Ein Thinktank soll ein Konzept für die Zukunft der Zusammenarbeit zwischen den Hochschulen erarbeiten. Dafür kommen unter der Leitung der Charité-Prodekanin Claudia Spies Vertreter der Charité, der Alice Salomon-Hochschule und der drei Unis zusammen. Dem Tagesspiegel erklärte Spies: „Wir brauchen dringend eine Struktur für Gesundheitserhaltung und –förderung.“ Sie meint: „Die Zeit dafür ist reif. In Berlin und Brandenburg haben wir ein ungeheures Public-Health-Potenzial, das systematisch ausgebaut werden muss.“
Dort sind sich Politik und Wissenschaft also einig, jedoch ist die Frage der Finanzierung wie immer ein Dissonanz-Faktor. Der Bund hat erste Strukturen für das Fach gelegt und es lange gefördert, findet aber nun: „Jetzt sind die Länder dran“. So äußerte sich Angela Lindner, die beim Bundesforschungsministerium für das Thema zuständig ist.
Der Zuschuss, den das Land der Charité gewährt, ist laut dem Berliner Staatssekretär Nevermann „kein Pappenstiel“. Da müsste es doch möglich sein, für die Medizin etwas für Public Health abzuzweigen. Das „Kuckucksei“, das er sich wünscht, könnte jedoch Unmut hervorrufen, wenn es aufbricht und die legitimen Bewohner aus dem Nest wirft. Das wäre kein gutes Image für Public Health, mahnt Claudia Spies von der Charité. Bis dahin gibt es aber anscheinend noch etwas Bedenkzeit. Über die Finanzierung will Nevermann noch keine konkrete Aussage machen: „Erst mal sollen sich die Beteiligten einigen. Vorher lässt sich über Förderung nicht reden.“