1. Name: Tobi, Alter und Beruf bleiben anonym
2. Wie kam die Person zu mir: Julia, die Besitzerin des Café List, hat ein paar ihrer Gäste angesprochen, ob sie nicht Lust auf meine „Sprechstunde“ hätten. Bei Tobi dachte sie sich, dass ist ein verrückter, gesprächiger Typ, das passt.
3. Was trinkt die Person: Ein Glas Wein mit weißem Pulver
20 Minuten vor 16 Uhr ruft mich Tobi an und berichtet mir am Telefon, dass er die Wohnung nicht verlassen kann, wegen der Katze seiner Freundin, die humpelt. What? Eine humpelnde Katze? Ich habe schon Angst, dass ich ganz umsonst den weiten Weg von Friedrichshain nach Neukölln auf mich genommen habe und Tobi mir absagt, aber dann bietet er mir an, dass ich zu ihm in die Wohnung kommen kann. Ich stutze. Man merkt, dass mein Projekt 90 Nächte, 90 Betten schon drei Jahre her ist. Mein bedingungsloses Vertrauen in die Menschheit, das ich damals hatte, humpelt auch ein bisschen, wie die Katze. Ich habe kein gutes Gefühl dabei, zu einem wildfremden Mann in die Wohnung zu gehen. Aber ich will mich jetzt unterhalten, ich will meine „Sprechstunde“ und er hat von seiner Freundin am Telefon erzählt und irgendwie beruhigt mich das. Also wende ich den Plan an, den ich schon während meiner 90 Nächte angewendet habe, ich schreibe einer Freundin kurz eine SMS: „Bin in der XY Straße, Hausnummer XY. Wenn ich mich in einer Stunde nicht gemeldet habe, mach dir Sorgen!“
Tobi wohnt unter dem Dach. Es ist für mich jedes Mal eine körperliche Herausforderung, bis in den fünften Stock hochzulaufen. Mein Körper ist einfach nicht für das Treppensteigen geschaffen. Oben angekommen, begrüßt mich Tobi. Er trägt eine Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover. Er hält mir die Tür auf, ich gehe rein und ziehe meine Schuhe aus. Dann stehe ich mitten in einer wunderschönen Dachgeschosswohnung mit großer Fensterfront. An der Wand hängen viele Bilderrahmen, auf dem Wohnzimmertisch steht ein Glas Weißwein. Ich nehme gar nicht so viel wahr. Ich bin, ehrlich gesagt, sehr aufgeregt, wie immer beim ersten Mal.
„Hey, ja cool, dass du da bist. Also ich habe keine Ahnung, was du vor hast, ich wollte eigentlich gar nicht bei so einem Hipsterscheiß mitmachen, aber meine Freundin meinte, ich soll das mal machen und wir quatschen einfach ein bisschen.“ Tobi redet schnell und leise. Ich bin erstaunt, dass „miteinander reden“ schon als Hipsterscheiß abgestempelt wird. Er bietet mir ein Wasser aus dem Sodamax an, ich ziehe meine Jacke aus und setze mich auf das graue Veloursledersofa unter die Fensterfront.
Endlich schalte ich mich auch dazu und stelle die ersten Fragen:
„Warst du nach Soaps süchtig?“
Sucht ja, das wird mein heutiges Thema, beschließe ich intuitiv.
„Ja, ich bin ein Genussmensch. Ich habe mir damals an einem Samstag alle Folgen GZSZ angeschaut mit kiffen und so.“ Er setzt zu einem neuen Monolog an, stoppt jedoch nach drei Sätzen und fragt mich, ob ich etwas dagegen habe, wenn er kurz verschwindet, um eine Line zu ziehen.
Ich schaue ihn an. Es rattert kurz in meinem Kopf. Man hat ja schon auf alle möglichen Fragen eine Antwort parat: Stört es dich, wenn ich kurz das Fenster aufmache? – Nein, natürlich nicht. Stört es dich, wenn ich kurz eine rauchen gehe? – Mach ruhig. Stört es dich, wenn ich kurz eine Line ziehe? – Kein Problem. Feel free. Tobi verschwindet kurz, kommt dann mit einem silbernen Teller, auf dem ein weißer Pulverhaufen liegt, zurück und setzt sich zu mir auf das Sofa. Es ist das erste Mal, dass er sitzt. Die ganze Zeit stand er vor mir und wirkte angespannt. Jetzt sitzt er endlich einmal ganz ruhig neben mir, präpariert sein Pülverchen und ich weiß gar nicht, wo ich hinschauen soll. Darf man jemanden genau beobachten, wenn er sich eine Line zieht? Das würde mich ja schon interessieren. Oder schaut man lieber dezent weg, wie man es macht, wenn man als Frau das Männerklo benutzt und vor dem Pissoir jemand steht. Da glotz ich ja auch nicht direkt auf den Penis.
Das Pulver löst einiges auf. Anspannung. Nervösität, einen neuen Redefluss. Tobi erzählt mir von seinem stressigen Tag, dem Streit mit seiner Freundin, dem MDMA, das sie für das Wochenende besorgt haben, von dem die Freundin schon gestern etwas nehmen wollte und wenn sie was nimmt, dann kann er auch nicht ’nein‘ sagen und es ist ein Teufelskreislauf. „Wenn man feiern geht, alles geil, aber doch nicht, wenn man zu Hause bleibt.“ Die Katze hätte auch alleine bleiben können, erzählt mir Tobi, aber er ist heute schon zu paranoid und kann das Haus nicht verlassen. Früher haben sie nur was genommen, wenn sie auf Partys gegangen sind. Jetzt nehmen sie es auch zum Tatort. Ich stelle mir vor, wie sie auf Koks Mau Mau spielen und finde den Gedanken sehr witzig. Ich glaube, ich wäre sogar gerne mal dabei. Aber ich glaube, genau so, wie man nicht auf fremde Penisse im Herrenklo schaut, macht man auch da keine Witze darüber. „Koks ist das Schlimmste,“ setzte Tobi an. „Man kann es nicht einfach liegen lassen. Es ist leicht wieder aufzuhören, es darf nur nicht in der Nähe sein. Einmal im Monat ist ok. Aber nur einmal.“ Er schaut aus dem Fenster. Der Himmel ist grau, es regnet auf die schräge Fensterfront. Ich sitze da, nicke, schreibe irgendwas in mein Notizbuch, bin leer im Kopf und höre einfach zu.
Tobis Telefon klingelt, er erklärt einem Freund den Weg zu seiner Wohnung, ich verabschiede mich und gehe. 45 Minuten sind rum. Als ich die Tür hinter mir zufallen höre und wieder auf der Hermannstraße in Neukölln stehe, muss ich anfangen zu lachen. Richtig laut, und alle, die mir entgegen kommen, schauen mich komisch an. Kennt ihr diese Momente, in denen ihr unmögliche Sachen erlebt, von denen ihr denkt, dass sie euch eh keiner glaubt? Als hättet ihr eine Tür geöffnet und wärt direkt in eine Filmszene rein gerutscht? Genau so fühlte ich mich gerade. Na das kann ja was werden.
Liebe Leser und Leserinnen, herzlich willkommen bei meinem neuen Projekt – der Sprechstunde. Ihr dürft euch noch auf so einiges freuen!
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Dieser Artikel wurde uns zur Verfügung gestellt von: www.lilies-diary.com.