Das neue Luxusdomizil in der Nähe des Columbiadammes und des Tempelhofer Felds oder das Hüttenprojekt Gecekondu auf dem Tempelhofer Feld? Da brauche ich nicht nachzudenken, was mir von beiden besser gefällt. Wenn ich mit dem Bus durch Berlin fahre, dann möchte ich nicht irgendwann das Gefühl bekommen, in Frankfurt zu sein. Ich fuhr vor Jahren einmal nach Prag und dachte in der dortigen Fußgängerzone, dass ich in Heilbronn wäre. Schlimm.
Eine Mitarbeiterin der Jugendkunstschule Neukölln, die das Projekt Gecekondu initiiert hat, erklärte mir, was dieses Wort bedeutet. Gecekondu ist türkisch und bezeichnet ungefähr folgenden Sachverhalt. Wenn jemand in der Türkei in der Nacht anfängt zu bauen und am darauffolgenden Tag niemand Einwände dagegen erhebt, dann ist der Bau genehmigt. So habe ich das zumindest verstanden. Wenn eine ganz andere Bedeutung hinter Gecekondu stecken sollte, fände ich das schade, weil mir meine Definition sehr gefällt.
Besser temporär als langweilig
Wie sagen Kinder gerne: „Mir ist laaaangweilig!“ So geht es mir, wenn ich die Fassaden von Luxusdomizilen betrachte. Gecekondu mag vieles sein. Langweilig ist es nicht. Es ist eines der temporären Projekte auf dem Tempelhofer Feld. Ach, ich wäre dafür, dass es für die zukünftige Nutzung der riesigen Freifläche ausschließlich temporäre Projekte geben sollte. Die Freifläche als Berlins Experimentierfeld!
Ich frage mich, ob unter den Kindern und Jugendlichen, die die Hütten für Gecekondu gebaut haben, nicht vielleicht ein späterer Bruno Taut dabei ist. Oder ein späterer Flughafenprojektmanager. Der Flughafen BER beweist: Man kann nie früh genug die ersten Erfahrungen mit Baumaßnahmen machen. Hätten die jetzigen Flughafenprojektmanager vor 40 Jahren bei so einem Projekt mitmachen dürfen, wer weiß. Vielleicht wäre der Flughafen schon ein Jahr vor dem geplanten Eröffnungstermin fertiggestellt worden. Möglich wär´s.
Ich kann mir auch vorstellen, dass Studenten im Sommer das Hüttendorf bewohnen könnten. Natürlich temporär (mein aktuelles Lieblingswort). Oder man könnte eine Hütte an reiche Leute vermieten, die das Besondere zum temporären Wohnen suchen. Mit den Mieteinnahmen könnte man dann neue Hütten bauen, oder die Gelder in Hilfsprojekte in Südamerika einfließen lassen, ach da gäbe es genug Möglichkeiten, wohin das Geld fließen könnte. Es muss ja nicht immer nur die Schweiz oder Singapur sein.
Gesunde Anarchie
Als ich an einem sonnigen Septembertag Gecekondu besuchte, fühlte ich mich an die Hippie-Zeit erinnert. Ein richtiger Hippie war ich selbst ja nie. Mit 31 Jahren wurde ich verbeamtet. Aber da ich schon 1987 nach Berlin gezogen bin, gelte ich zumindest in den Augen meiner schwäbischen Landsleute als „schwäbischer Hippie“.
Noch zwei Gründe für noch mehr Gecekondu in Berlin: Berlin braucht Anarchie zum Atmen. Auch diejenigen Schwaben, die seit langem in Berlin leben. Und jetzt soll sogar noch der Bundesnachrichtendienst nach Berlin ziehen. Obwohl, denke ich gerade, der ist ja selbst reinste Anarchie. Und der zweite Grund: Sollte es in Berlin immer mehr Luxusdomizile und Townhäuser geben, dann werden viel weniger Touristen kommen. „Frankfurt haben wir ja zuhause“, werden sie sagen. In diesem Sinne: „Let the sunshine in!“
QIEZ-Leserreporter Reinhold Steinle kennt sich nicht nur auf dem Tempelhofer Feld, sondern vor allem in Neukölln bestens aus. Deshalb zeigt er den Stadtteil auch anderen Leuten. Informationen zu Führungen mit Reinhold Steinle erhalten Sie unter www.reinhold-steinle.de