Die totale Überwachung – so sieht sie aus, wenn Rocco und seine Brüder zur Kunstaktion blasen: Sie platzierten eine ganze Reihe Kameras in allen Winkeln eines U-Bahn-Wagens – 32 Stück, um genau zu sein – und plakatierten die Wände mit überdimensionalen Video-Warnschildern. Kein Fahrgast würde sich hier wohl fühlen und der Wagen vermutlich leer bleiben, so die Vermutung des Künstlerkollektivs… und voll wurde der Wagen angeblich wirklich nicht, wie ein Videodokument der Künstler beweisen soll. Die wenigen Insassen, die sich doch ausgerechnet hier ein Plätzchen gesucht hatten, blieben allerdings erschreckend ruhig zwischen den rot leuchtenden Kameras sitzen.
CCTV | Rocco and his brothers from Karl Moik on Vimeo.
Uns, den überwachten Menschen, die Augen zu öffnen, das ist das Ziel dieser Kunstaktion. Denn die Überwachung ist kein Szenario aus einem Film: Fast 15.000 Kameras sollen in Berlin für Sicherheit sorgen. Und nehmen uns dafür ein Stück Privatsphäre. Bewusst sind uns die wenigsten dieser Kameras, die unsere Schritte und Tritte im Alltag verfolgen, und sie widersprechen damit eigentlich dem Konzept der Abschreckung, das gern im Zusammenhang mit der Überwachung angeführt wird.
Vor gut zehn Jahren predigte Bundeskanzlerin Angela Merkel „null Toleranz bei innerer Sicherheit“. Ja, der CDU hätten wir es zu verdanken, führte sie damals aus, dass die Überwachung öffentlicher Plätze vorangetrieben werde. Die Videokameras sollen nicht nur helfen, Straftaten aufzuklären, sondern als Mittel der Abschreckung sogar welche verhindern. So weit, so gut?
Sicherheit oder Verlust der Privatsphäre?
Im Bekennerschreiben des Künstlerkollektivs heißt es: „Es besteht ein konstantes Spannungsverhältnis zwischen dem Sicherheitsbedürfnis einerseits und dem Verlust der Privatsphäre andererseits, und entsprechende Maßnahmen müssen von der Gesellschaft legitimiert sein.“ Dass ganz bestimmt nicht alle Maßnahmen von uns legitimiert werden, wissen wir nicht zuletzt dank Whistleblower Edward Snowden. Doch abgesehen von dieser Geheimniskrämerei verweisen Rocco und seine Brüder auch auf den zweiten wichtigen Punkt: „Werden mit zunehmender Überwachung Ängste wirklich beruhigt oder gerade erst geschaffen, weil der öffentliche Raum als potentielle Gefahrenzone gestaltet wird?“
Offenbar treffen die Künstler mit ihren Aktionen einen Nerv. Im Netz werden ihre Videos fleißig geteilt und geliked. Erst vor wenigen Tagen wurde ein anderer (Kunst-)Fall von Rocco und seinen Brüdern aufgeklärt: Ein komplett eingerichtetes Schlafzimmer im U-Bahn-Tunnel hatte seit Februar diesen Jahres Rätsel aufgegeben. Handelte es sich um den Schlafplatz eines Obdachlosen, eine Notunterkunft oder gar einen Schutzraum für Künstler, die „vor der Reizüberflutung der Außenwelt“ fliehen wollten? Publik wurde das U-Bahn-Zimmer vor allem durch die BVG selbst, die diese Aktion zur Anzeige brachte, weil man zwar Spaß verstehe, das Betreten der Tunnel aufgrund der Starkstromleitungen jedoch lebensgefährlich sei. Die polizeilichen Ermittlungen führten zu keinem Ergebnis. Das Kunstkollektiv veröffentlichte jetzt ein Video, in dem vor allem überrascht, wie die Macher trotz Kameras unbemerkt mit einem Bett durch den U-Bahnhof Schloßstraße laufen konnten.
Erst ein Bett im Tunnel, jetzt Kameras im Zug
Der öffentliche Nahverkehr nimmt mit über 13.000 Kameras die führende Rolle im Überwachungssystem ein. So ist es auch kein Wunder, dass die BVG schon zum zweiten Mal durch Rocco und seine Brüder in den Fokus gerückt wird. (Abgesehen davon, dass das Kunstkollektiv aus der Graffiti-Szene kommt, und so eine gewisse Vertrautheit zu Tunneln, Bahnhöfen und Wagen des Unternehmens aufgebaut hat.) Bleibt abzuwarten, was als nächstes passiert. Unsere Aufmerksamkeit ist in jedem Fall geschärft und wir sind überrascht, an wie vielen Stellen in der Stadt wir uns fragen könnten: Ist das ein Guerilla-Kunstwerk von Rocco und seinen Brüdern oder nur die absurde Realität?