Warum ausgerechnet ein Touristenlokal? Das frage ich mich bei jedem meiner Besuche im Vaporetto. Doch das Zuhause kann man sich selten aussuchen, entweder man hat eines oder nicht. Und es ist jedes Mal eine Freude, Claudia Cardinale beim Spaghettiessen zuzuschauen. Dazu Sophia Lorens skeptischer Blick von der Wand gegenüber. Sie hat ja recht! Trotzdem kehre ich immer wieder hierhin zurück.
Der Vorgänger des Vaporetto hieß Albrechtseck. Wir betraten es nur dann, wenn der Trichter zu hatte. Das Albrechtseck war eine der letzten wirklich gelungenen Synthesen von Koma und Preußentum. Wenn wir Glück hatten, streifte uns irgendwann ein halber vorwurfsvoller Blick mit einem längst erstorbenen Rest von Frage darin. Der gehörte der Wirtin. In ihm lag der Vorwurf, dass wir uns überhaupt hier aufhielten und eine ungenaue Erinnerung an ihren Beruf. Die Speisekarte hing so weit hinter dem Tresen, dass sie mit bloßem Auge unmöglich zu entziffern war. Und die Gäste im Albrechtseck sahen meist aus, als wollten sie sich hier Mut für ihren letzten Gang antrinken. Hier, in unmittelbarer Nähe zur Spree.
Früher war es möglich, einfach so am Geländer zu stehen und lange in das Selbstmörderbleigrau des Flusses zu blicken. Die Spree hat immer dieselbe Farbe hier, vielleicht kommt das vom Schatten, den der Bahnhof Friedrichstraße auf sie wirft. Diese Tristesse wird sich nicht ändern. Das ist schön. Das hat Eigensinn. Aber springen sollte man heute im Ernstfall woanders, schon wegen der vielen Sonnenschirme. Was haben andere Städte für Flüsse und Cafés an Flüssen, sogar Bonn!
Rheinischer Kommunismus
Die meisten Schirme stehen selbstverständlich vor der Ständigen Vertretung. Diese Institution ist unter soziologischem Aspekt sehr spannend. Der Osten soll eine Gleichmachergesellschaft der Gleichgemachten gewesen sein? In der Ständigen Vertretung sitzt der Massenmensch an Massentischen und ist dabei glücklicher als der Kommunismus sich das jemals erträumt hat. Die Situation unterscheidet sich von der im Kommunismus dadurch, als dass man die Ständige Vertretung rein theoretisch verlassen kann. Das macht nur keiner.
Der Schiffsbauerdamm in Berlin-Mitte erzählt natürlich auch die Geschichte des Kommunismus. Am anderen Ende, also vier, fünf Kneipen weiter, direkt neben dem Berliner Ensemble (BE), liegt das Ganymed. Dort erzählte Heiner Müller einst Wolfgang Harich, dass er Georg Lukács schon für ziemlich faschistoid halte. Worauf Harich sein Rotweinglas in der Hand zerdrückte. Die typische Geste eines Revolutionärs im nachrevolutionären Zeitalter. Heute würde man so etwas hier vor allem deswegen erwarten, weil die Menschen, die bereit sind, die Preise des Ganymed zu zahlen, auch sonst recht schrullig sein müssen.
Vergangene Orte
Ein Artikel über den Schiffbauerdamm kann nicht ohne etwas Positives über den BE-Intendanten Claus Peymann auskommen. Peymann hat den ehemaligen Intendanten des Deutschen Theaters Thomas Langhoff mit der Hälfte des ehemaligen Ensembles des Deutschen Theaters Gorkis „Nachtasyl“ inszenieren lassen. Alexander Lang als Gorkis Spieler Satin! Christian Grashof als Pilger Luka!
Wenn wir früher spätabends im Trichter aufschlugen, kamen wir so gut wie immer von den Weltauf- und Untergängen im Deutschen Theater und nur selten aus dem Brechtmuseum BE. Der Trichter heißt heute Brechts. Hier herrscht keine Ähnlichkeit mehr mit dem vertrauten Vergangenen. Jedes Mal, wenn ich vorbeikomme, schaue ich unwillkürlich hinein. Die kleine Tänzerin an der Stirnwand hinten ist weg. Ich weiß es und es überrascht mich doch jedes Mal aufs neue. Irgendwann – es war schon vor 1989 – hängten sie die alten Brecht-Fotos ab, ließen die alten Stühle verschwinden, auch den Laubengang, und übermalten die kleine Tänzerin. Dass man Orte so auslöschen kann!
Der intellektuelle Anspruch sowie die Preise steigen am Schiffbauerdamm von links nach rechts, Endpunkt Ganymed. Doch eine Örtlichkeit schert aus: In der Kantine des BE kann man für weniger als fünf Euro essen! Und das gar nicht schlecht. Biermann sang hier einst während seines Auftrittsverbots, eine Kantine ist schließlich keine Bühne.