Das Restaurant Aerde versteht sich als eine Hommage an die Erde. Das ist aber auch das Einzige, was hier vorhersehbar ist. Das Team, das Inhaber Justus Will um sich geschart hat, ist nämlich im besten Sinne von Essen besessen. Vom Trinken auch. Und von der Natur sowieso. Das sind wunderbare Voraussetzungen, um Gäste glücklich zu machen. Spoiler: Bei uns hat es funktioniert.
Das große Ziel ist es, eines Tages alles, was im Aerde auf den Teller kommt, auch selbst angebaut und gezüchtet zu haben. Doch bis diese Farm-to-table-Mission vollständig abgeschlossen ist, arbeitet das Team mit Menschen zusammen, die eine ähnliche nachhaltige Visionen haben: wie 25 Teiche, Terra Natur, dem Beelitzer Syringhof, Plattform 2020 und vielen mehr. Parallel dazu gibt es jeden Dienstag einen Ausflug in Wills Bungalow in Brandenburg, um stets aktuell zu sehen, was die Natur zu bieten hat, und um zu testen, was man daraus machen kann. Die Laborküche schweißt das Team zusammen. Aus dem Spaß, den sie dort draußen haben, entstehen kreative Ideen für Speis und Trank.
Als wir das Restaurant Aerde am Lokdepot erreichen, sind wir überrascht, wie klein das Lokal ist. Vom Vorgänger Lok 6 ist nur die Wandfarbe geblieben. Das Interior wirkt harmonischer, der Raum strahlt Wärme aus und so fühlt man sich gleich, als sei man bei guten Freunden zu Gast. Verstärkt wird der Eindruck durch Restaurantleiterin Hillevi Hövelmann, die uns herzlich begrüßt und überzeugt, dass der Abend am besten mit einem Aperitif in der untergehenden Sonne zu beginnen sei.
Mit Blick auf das alte Lokdepot und der Weite des Berliner Himmels gerät der Alltag schnell in Vergessenheit. Wir entscheiden uns für einen Spritz mit Rhabarber und einen mit Blaubeere – der jeweilige Sirup ist natürlich selbstgemacht und schmeckt daher extra fruchtig, aber nicht zu süß. Wer keine Lust auf Alkohol hat, kann sich den Sirup auch mit Soda aufgießen lassen. Sehr erfrischend!
Apropos: Erfrischend ist auch das Willkommensritual – warme Tücher, mit denen wir uns die Hände reinigen können, und ein kleiner Tee aus selbst gesammelten Kräutern. Um nichts zu verpassen, nehmen wir ein Vier-Gang-Menü für 65 Euro und teilen uns die Vorspeisen, so können wir alle vier Varianten probieren. Es gibt Kohlrabi mit Buchweizen – das Gemüse ist super zart, auch die Blätter des Kohlrabis sind im geschmacksicheren Einsatz. Es folgt Stör mit Schwarzpappel und wilder Quitte – wenn du bisher nicht erleben durftest, wie es ist, wenn etwas auf der Zunge zergeht, erfährst du es hier durch den nahezu cremigen Fisch.
Die zweite Vorspeisenrunde beschert uns Spargel mit einer ungewöhnlichen Crème aus Koji, doch der eigentliche Clou ist für uns der Crunch aus Kartoffeln als Topping – manchmal sind eben die einfachsten Dinge genial. Unsere erste Runde endet mit einem Kräuterseitling auf Kirschpflaumenblüte und Bärlauchöl – wunderbarer Biss und feine Aromen. Küchenchef Igor Kazakov, früher Cordo, und Sous-Chef Mischa Winz lieben die Produkte. Sie umsorgen sie mit alten Techniken und selbstgemachten Essigen, Ölen und Essenzen. Nichts kommt auf den Tisch, nur weil es Saison hat, alles wird darüber hinaus in Bestform gebracht.
Als Hauptgang gibt es Kalbsmedaillons auf Mangold und Çiğ Köfte – solide Kombination – und Lauch auf Kartoffeln mit Miso – was simpel klingt, aber in jeder Hinsicht überzeugt: von der Textur bis zu den feinen Nuancen. Vielleicht schieben wir an dieser Stelle mal die Weinbegleitung ein, die uns Hillevi Hövelmann angedeihen lässt. Unser Favorit ist der österreichische JZ Velue Muskateller, der mit Sicherheit nicht nur zum Kräutersaitling perfekt passt. Aber auch die anderen Weine vom expressiven Weißen Burgunder Löss und Lehm vom Weingut Michael Andres bis zum süchtig machenden ungarischen Kristinus Roka Rosé, den Hillevis Co-Star Hannes Meier spontan in die Runde bringt, sind jede Sünde wert.
Zum Abschluss möchten wir noch das Dessert bejubeln – hier gibt es feine Kontraste dank Erdbeeren, schwarzem Knoblauch und Sonnenblumenkerneis. Unser Fazit: Aerde wird dem wunderbaren Planeten Erde gerecht. Bei so viel Ambitionen ist es ja gar nicht leicht, eine lässige Atmosphäre zu schaffen: Dem Team gelingt das aber spielend.