Tragt ihr gerade Klamotten von der Straße? Diese Frage wird den zwei Frauen wahrscheinlich immer gestellt, wenn sie erzählen, dass sie gerne gebrauchte Kleidung von der Straße sammeln. Trotzdem antworten Anna Rahmanko und Karina Papp gut gelaunt und präsentieren stolz ihre Outfits: Anna trägt ein blaues 70er Jahre Kleid, das sie in der Ratiborstraße gefunden hat und eine blaue Sonnenbrille mit spitzen Ecken. Mit den kurzen schwarzen Haaren dazu, erinnert sie uns ein bisschen an die junge Jackie Kennedy. Karina hat heute eine modische, ärmellose Bluse von der Richardstraße an, die bis über den Po reicht und eine abgeschnittene Röhrenjeans. „So eine Jeans habe ich mir schon immer gewünscht und nach einem Jahr habe ich tatsächlich eine auf der Straße gefunden“, so Karina. Klar, wenn man etwas Bestimmtes sucht, aber nicht shoppen gehen will, braucht man ein wenig Geduld und Glück.
Man muss neidlos zugeben: Die zwei Neuköllnerinnen sehen klasse aus. Wer die Geschichte hinter den Outfits nicht kennt, würde nie vermuten, dass die Kleider der beiden nicht von einem Designer- oder Vintageladen stammen. Doch genau das ist die Idee von Anna und Karina, die damit auch ein Zeichen gegen Fast Fashion und die Konsum- und Wegwerfgesellschaft setzen möchten. Die zwei Freundinnen sammeln Kleidungsstücke auf den Straßen Berlins und fotografieren sich dann in stylischen und ausgefallenen Outfit-Kreationen für ihren Instagram Account found_on_the_street – ganz wie typische Mode-Influencer. Mit dem kleinen, aber bedeutenden Unterschied, dass sie nicht die neueste Modekollektion präsentieren, sondern getragene Ware von der Straße, die andere loswerden wollten.
„Wir suchen nicht nach der Kleidung, die Kleidung findet uns“
Was erst als Spaß begann, ging schnell durch die Decke – inzwischen haben die beiden gebürtigen Russinnen schon fast 5.000 Fans auf Instagram. Das Projekt machen die beiden allerdings nur nebenbei. Vor ihrer Reise arbeitete Anna zwei Jahre lang mit Geflüchteten im ehemaligen Lageso, Karina übersetzt derzeit den Roman I love Dick ins Russische. Ist das Kleidersuchen auf der Straße dann so eine Art Hobby? „Wir suchen gar nicht aktiv nach Kleidung, sie findet uns – meistens beim Spazierengehen“, erzählen die beiden lachend. Anna zum Beispiel, die gerade von einem halben Jahr Weltreise mit Mann und kleiner Tochter zurückkommt, suchte dafür dringend noch schwarze, schlichte Schuhe. Einen Tag vor der Abreise spazierte sie durch den Kiez und fand tatsächlich an einer Straßenecke, wonach sie gesucht hatte. Der beste Zeitpunkt, um Klamotten zu finden, ist laut der beiden Profis das Wochenende, also wenn die Leute Zeit haben, ihren Kleiderschrank auszumisten.
Angefangen hat das Projekt Found on the Street eigentlich gar nicht mit Klamotten, sondern mit verlassenen Möbeln – und die findet man in Neukölln ja an jeder Ecke: Karina entdeckte einen schönen Stuhl auf der Straße und nahm ihn mit in ihre Wohnung. Danach hielten die beiden die Augen offen und spürten immer mehr Schätze auf, die andere Leute einfach auf die Straße stellen. Das Kleidersammeln ist inzwischen auch so eine Art Lebenskonzept der beiden. Anna sagt beispielsweise, sie will keine 40 Stunden die Woche mehr arbeiten, nur um sich noch mehr Klamotten kaufen zu können, die sie dann wieder wegschmeißt. „Es gibt schon genug Kleidung auf der Welt“, sagt die 29-Jährige. Auf diese Weise hat man dann eben auch mal Zeit und Geld für eine Weltreise. Und Karina fügt hinzu: „Nicht shoppen zu gehen, ist eine Art Befreiung. Ich muss mir keine Gedanken über Klamotten machen.“
In Mitte gibt‘ s Designer-, in Neukölln Omastyle
Unterscheiden sich denn die Klamotten, die sie finden, je nach Bezirk? Anna: „Auf jeden Fall. In Mitte habe ich einmal eine ganze Tüte mit COS-Klamotten gefunden. Aber auch Marken wie Monki oder Jeans von Cheap Monday gibt es da.“ Karina: „In Neukölln dagegen gibt es mehr Vintage-Klamotten, mehr Oma-Stil. Wir freuen uns auch immer, wenn wir traditionelle türkische oder pakistanische Trachten finden. Das ist eben Berlin, das ist bunt.“ Kreuzberg ist der beste Bezirk fürs Kleidersammeln, da gibt es auch viele fest installiere Kleiderkisten, aber auch Neukölln zieht langsam nach. In Charlottenburg dagegen sieht es mau aus für Kleiderjäger – dort entdeckte Anna, die früher dort arbeitete, fast nie etwas.
Man findet nicht nur Kleidung auf der Straße: „Ich habe mal dem Freund meiner kleinen Tochter ein nagelneues Spielzeugauto mit Fernbedienung geschenkt, von der Hermannstraße. Als meine Tochter das erwähnte, waren die Eltern schon ein wenig pikiert, aber ein richtiges Problem war das auch nicht“, so die junge Mutter. Alles außer Unterwäsche kann gesammelt werden. Sogar ihr Brautkleid hat Anna gebraucht gekauft – ein selbstgenähtes Kleid aus den 30ern für ungefähr 20 Euro bei ebay. Im Secondhand-Laden kaufen die beiden aber nur im absoluten Notfall ein. Lieber leihen sie bei Freunden, gucken bei Facebook in der Free your Stuff Berlin Gruppe oder bei ebay Kleinanzeigen nach gratis Klamotten, wenn die Straße mal nichts hergibt. Kaputte Sachen werden einfach genäht, bestickt oder repariert. Denn gerade die Stoffqualität sei früher viel besser gewesen, wie die beiden schwärmen.
„Die Kleiderkisten haben meinen Stil verbreitert“
Dass den beiden hübschen Frauen die ausgefallenen Styles gut stehen, ist kein Wunder. Aber wie finden sie den Mut, so extravagante Kleidung zu tragen? „Du hast gesagt, wir haben einen guten Stil, aber eigentlich sind wir nur mutig. Und Berlin hat uns geholfen, mutiger zu werden. Das ist auch ein Aufruf von uns: Seid mutiger! Denn Mode ist auch eine Sprache. Wir sprechen mit der Welt und sagen mit Klamotten, wer genau wir sind“, sagt Karina. Mut brauche man auch erst einmal, um in die Kisten reinzugucken und nichts darauf zu geben, was andere vielleicht davon denken mögen. „Wir sind inzwischen eher stolz darauf. Wenn uns jemand ein Kompliment macht, antworten wir: ‚Das habe ich auf der Straße gefunden'“, erzählt die fröhliche Blondine.
In Zukunft wollen sie hier am kleinen Platz in Neukölln vor dem Prachtwerk eine feste Kiste mit Kleidern zum Mitnehmen aufstellen – allerdings müssen sie sich vorher noch durch den Behördendschungel wühlen. „Das muss alles geregelt sein, sonst nimmt die BSR die Klamotten mit und schmeißt sie weg“, so Anna. Außerdem wollen die beiden bald einen Blog erstellen, wo sie beispielsweise auch Tipps geben, was man mit alten Klamotten tun kann, statt sie wegzuschmeißen. Dazu gehört Upcycling genauso wie eine Tauschparty mit Freundinnen. Anna rät dazu, erst einmal den Schrank noch einmal durchgucken und auch mal selbst was geben. „Ich glaube an gutes Karma. Wenn man die Klamotten gut behandelt und was weitergibt, finden die Klamotten dich auch.“
Jetzt steht aber erstmal eine Fashionshow für die Upcycling-Marke Mimycri im CRCLR am 24. Mai um 19 Uhr an, für die sie ein paar Looks aus ihren gefundenen und gebrauchten Kleidungsstücken zusammenstellen. Wir sind gespannt und werden uns die Show nicht entgehen lassen – und wer weiß, vielleicht haben wir bis dahin ja selbst schon ein tolles Kleidungsstück auf der Straße gefunden?