Früher sprach man im Berliner Fußball ehrfürchtig von der Neuendorfer Straße im Norden Spandaus. In den Sechzigerjahren versammelten sich am Platz auf dem Gelände der Schultheiß-Brauerei Tausende von Fans. Die Spielstätte ist längst abgerissen – die neue Heimat des Spandauer SV liegt ein paar hundert Meter weiter ebenfalls an der Neuendorfer Straße, hat mit der Vergangenheit jedoch nur noch die Adresse gemein.
Der SSV war früher ein Aushängeschild des Bezirks im Nordwesten Berlins, heute kommen selten mehr als 200 Zuschauer zu den Heimspielen. Auch nicht zur Partie gegen den SC Charlottenburg, obwohl SSV und SCC früher in der Zweiten Bundesliga spielten – wie insgesamt nur sieben Berliner Vereine. Doch die fetten Jahre sind für beide Clubs längst vorbei. Und so treten an diesem Sonntag zwei Siebtligisten gegeneinander an. Landesliga, Staffel 1.
Hinter Gitterzaun und Werbebanner
Während auf der Haupttribüne rund 50 Zuschauer mit Fanschals, Trommeln und SSV-Rufen einen Hauch von Fankurven-Stimmung aufkommen lassen, sitzen auf den Betonstufen hinter dem Tor nur einige wenige ältere Herrschaften. Jeder allein, ohne einen Ton von sich zu geben und mit viel Abstand zum Nebenmann. Dass die Sicht von dort durch den engmaschigen Gitterzaun schlecht ist und sich das Führungstor von SSV-Torjäger Mehmet Aydin auf der anderen Seite des Spielfelds bestenfalls erahnen lässt, scheint ihnen nichts auszumachen. Sie sind hier, weil sie immer zum SSV gehen.
Auch hinter dem einzigen Werbebanner hat sich ein Zuschauer niedergelassen, sehen kann er von hier kaum etwas, dabei sind ringsherum Plätze mit besserer Sicht frei. Als auf der Haupttribüne plötzlich gejubelt wird, da Aydin erneut getroffen hat, wirft er einen kurzen Blick hinüber, registriert das Tor und klatscht zweimal zufrieden in die Hände.
Auch Helmut K. sitzt hier, für sich. Wie immer. Der Ur-Spandauer kommt seit 60 Jahren zum SSV. Obwohl er inzwischen 40 Kilometer entfernt lebt, lässt er kein Heimspiel aus. „Früher war der SSV das Größte in Spandau, das waren unsere Stars“ sagt der heute 68-Jährige, der auch die ruhmreichen Jahre des Gegners SCC nicht vergessen hat. „Anfang der Achtziger, da hatten die gute Leute. Den Jörg Gaedke zum Beispiel, und Andi Köpke im Tor“.
Ehemals Tasmania der Zweiten Liga
Der Klassenerhalt gelang damals trotzdem nicht, doch immerhin nimmt der SCC in der ewigen Tabelle der Zweiten Bundesliga den 106. von 121 Plätzen ein. Schlusslicht ist der Spandauer SV, mit 115 Gegentoren in der Saison 1975/76 so etwas wie ein Tasmania der Zweiten Liga. Auch in den letzten Jahren lief es beim SSV nicht rosig, von 2008 bis 2010 stieg man dreimal hintereinander ab, die Auflösung wurde nur knapp vermieden. Derzeit sind die Spandauer allerdings Tabellenführer, in den ersten acht Spielen gelangen sieben Siege.
Die Charlottenburger sind ein ernstzunehmender Konkurrent. In der zweiten Hälfte gelingt ihnen der Ausgleich, es folgt eine spannende Schlussphase. Der SSV vergibt einige Großchancen, die selbst ein paar älteren Zuschauern ein Raunen entlocken. Das Spiel endet 2:2 und der Spandauer SV bleibt an der Tabellenspitze, wie ein rot-weiß-gekleideter Junge von der Haupttribüne ausrechnet und stolz verkündet.
Für Helmut K. und die anderen scheint das zweitrangig. Sie haben an der Neuendorfer Straße schon alles erlebt.
Stadion an der Neuendorfer Straße, Streitstraße 86, 13599 Berlin, www.spandauersv.de
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