Kein Anwohner, der nicht gerade selbst im Rotlicht tätig ist oder praktischerweise für den Eigenbedarf Dealer vor der Tür haben will, kann dem Treiben hier im Kiez etwas Positives abgewinnen, das würde ich als Laie mal einfach so behaupten. Aber genau das ist der Punkt: Ich bin nicht vom Fach, nicht einmal vom Amt und als drogenfreie Schönebergerin viel zu subjektiv. Während meine Meinung (noch) nicht zählt, ist meine Freundin eine Straße weiter auserwählt, ihre Kritikpunkte öffentlich zu äußern. Das Bezirksamt Mitte hat sich nämlich zusammen mit der Universität Potsdam überlegt, eine Umfrage zu starten, um zumindest im Abschnitt Tiergarten konkret herauszufinden, was den Kiezbewohnern gegen den Strich geht, ob wir nur hysterisch sind oder was uns an all dem, was zum Milieu dazu gehört, wirklich stört.
Wenn hauptamtlich Verantwortliche in die schicken Neubauten in die Kurfürstenstraße ziehen würden, ständen sie bald selbst vor unseren alltäglichen Fragen, die wir uns über die Bezirksgrenze Tiergarten-Schöneberg hinweg stellen: Wie durchsuche ich den Sandkasten auf dem Spielplatz nach Spritzen, ehe mein Kind mit der Schaufel losstürmt? Wie erkläre ich einem Zweijährigen, dass ein Kondom kein lustiger Ballon zum Aufblasen ist? Was ziehe ich im Sommer an, wenn ich nicht in Kutte an den Freiern vorbei zu den angesagten Locations auf der Potse gehen möchte? Wie suche ich als Mann einen Parkplatz, ohne ständig angehalten und belästigt zu werden? Wo parke ich überhaupt, wenn mir der Lack lieb ist? Wie überlebe ich in der 30er-Zone, in der die Dealer ihren neusten Mercedes, SUV oder gar Lamborghini ungestört testfahren? Wieso ist das gesamte Gebiet unter der U-Bahn eine vielgenutzte Toilette, während in anderen Bezirken das Urinieren an Bäumen schon bestraft wird? Und warum ist es ratsam, nach Einbruch der Dunkelheit andere Wege zu gehen als am Tag?
Es gibt natürlich auch immer eine freudige Sicht auf die Dinge: Bei uns sind Feuerwehr und Polizei täglich präsent, weil oft im Einsatz, Touristen finden unseren verrucht-hippen Kiez noch aufregender als Mitte, unsere Kinder wachsen nicht naiv in einer schönen Blase auf. Ja, mein Sohn ist in der Schule ein Star, kennt er doch unzählige Schimpfworte durch die Transen-Stricher und Prostituierten, die er vom Balkon aus locker mit anhören kann. Bei uns wird die Konfliktfähigkeit von Kindesbeinen an trainiert, auch die Wahrnehmung von Gefahren brenzliger Situationen ist in allen Altersklassen top. Und ich freue mich darauf, am Runden Tisch all die Frauen kennenzulernen, die schon als kleines Mädchen davon geträumt haben, sich freiwillig zu prostituieren.
Mal kurz im Ernst: Der Strich von der Potsdamer Straße zur Kurfürstenstraße über die Bülowstraße bis in die Frobenstraße gehört zu den härtesten Straßenstrichen der Welt. Das wissen sogar die Herrschaften vom Amt. Neben einigen Langzeitjunkies und sogenannten Muttis in der Mittagszeit stehen vor allem viele sehr junge Mädchen bereit. Sie kommen aus Osteuropa, werden von Zuhältern klein gehalten, mit Drogen ruhiggestellt. Maßnahmen wie der Hurenpass, der die Prostituierten nicht nur reglementieren, sondern auch schützen sollte, werden in den dunklen Nischen und hellen Hauptstraßen nicht wahrgenommen. Gibt es Ärger, stellt man das Mädchen einfach ein paar Wochen an einer anderen Ecke auf. Ein Bekannter, der die Gegend als Polizist dienstlich von allen Seiten kennt, würde ohne Dienstwaffe nicht einmal zum Supermarkt laufen. Wenn wir wüssten, was hinter den Fassaden noch alles stattfindet… Ehrlich gesagt will ich das als Anwohnerin gar nicht wissen, mir reicht, was ich sehe – Tag für Tag, Nacht für Nacht.
Der Fleischer ist weg, der Schuster, der kleine Drogeriemarkt, das Geschäft für gehobene Kaffeemaschinen und Zubehör sowieso… und kein Politiker hat aufgeschrien, kein Amt geht gegen die Wuchermieten vor, die das Handwerk und den Einzelhandel aus dem Viertel vertreiben. Wie gut, dass wenigstens die Prostituierten bleiben, um den alten Charme zu erhalten? Keiner von uns will das älteste Gewerbe der Welt abschaffen, den Straßenstrich schon, auch wenn es den in den Seitenstraßen zur Potse schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts gibt. Die Stadt verändert sich, die Kriminalität wächst. Die Prostituierten selbst wollen keine Einmischung von außen, weder in Sachen Kondompflicht noch in puncto Bordellbetriebe. Denn jedes Reglement läuft darauf hinaus, dass die Sexarbeiterinnen Steuern werden zahlen müssen. Und damit würde ich jetzt die Ernsthaftigkeit des Abschnitts wieder verlassen, denn am Ende wird die Posse noch zum Trauerspiel trotz gängiger Schlagworte wie Selbstbestimmung, Würde, Freiheit. Und schlimmer noch, ich könnte spießig klingen, weil ich dem Rotlicht nichts Romantisches, Wildes und Revolutionäres abgewinnen kann.
Die Umfrage soll uns gewiss das Gefühl geben, auch in wahlkampflosen Zeiten ernst genommen zu werden. Schön. Zur Belohnung gibt es 100.000 Euro für ein Platzmanagement. Danke schön. Derweil wird der Strich immer breiter und länger und die Clans, Zuhälter und Dealer reicher und reicher. In einem Punkt sind sich vermutlich alle einig: Das Prinzip des Wegsehens funktioniert nicht, wenn man nicht blind durch die Gegend laufen will.