Ungewöhnlicher VHS-Kurs

Street-Art-Grannies: Wenn Oma zur Spraydose greift

Es ist schwerer, als es aussieht: Die Charlottenburgerin 69 zählt zu den reifen Nachwuchstalenten, die ihr Graffiti-Debüt am Heckerdamm feiern.
Es ist schwerer, als es aussieht: Die Charlottenburgerin 69 zählt zu den reifen Nachwuchstalenten, die ihr Graffiti-Debüt am Heckerdamm feiern.
Man ist nie zu alt, um sich für Kunst zu begeistern. Street-Art galt bisher als Stilmittel der Jugend, doch eine Handvoll Berliner Senioren greift zur Spray-Dose, um es selbst bunt zu treiben und sich mit Graffitis auszudrücken. Und das auf Bezirksbeschluss!

Alte Meister werden in Museen hoch geschätzt, aber auf der Straße? Hier gelten andere Regeln. Die zu erlernen, das wünschen sich neun fidele Senioren in Charlottenburg. Keiner von ihnen lebt in dem Seniorenheim am Heckerdamm, dessen Wand sie unter der Leitung von Urban-Artist Till Grafe mit den Dosen gestalten dürfen.

Einige der Teilnehmer sind noch nicht einmal in Rente. Der größte Gegensatz des Graffiti-Nachwuchses im gehobenen Alter zu den üblichen jungen Spray-Verdächtigen ist wohl, dass die Orte, die es zu besprühen gilt, frei zugänglich sein müssen. Während also die jüngere Street-Art-Szene nach dem Kick sucht, um beeindruckende Locations für ihre Kunst zu finden, die für Normal-Berliner unmöglich zu erreichen scheinen, bedienen sich die Senioren höchstens mal einer Leiter, um den oberen Rand bequemer besprühen zu können. „Für mich kommt Graffiti nur legal in Frage. Alles andere wäre mir zu aufregend“, betont die Neu-Sprayerin Bärbel Markau-Altun, die schon lange hobbymäßig malt und sogar ausstellt. „Aber ich habe Blut geleckt“, gesteht sie, während sie die Blätter betrachtet, die sie zum Gesamtwerk beigesteuert hat.

Susanne Sarola, die gleich einräumt weniger künstlerisches Talent mit eingebracht zu haben, hat in dem Kursansatz nützliche Anregungen für ihre Arbeit als Kunsttherapeutin entdeckt. Durch das gemeinsame Gestalten der Wand werden soziale Kompetenzen trainiert, das Abstimmen des Motivs untereinander, das Erlernen von Grenzsetzungen und die Bereitschaft, Grenzen im Sinne aller auch wieder zu öffnen.

 

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Till Grafe ist jedenfalls sehr zufrieden mit seinen Kursteilnehmern, die viel disziplinierter und wissbegieriger waren als das jugendliche Klientel, das er sonst betreut. Seit er nicht mehr selbst durch die Nacht streift, um sich an irgendwelchen Wänden zu verewigen, unterrichtet er. Ja, und es gibt einiges zu lernen, bevor man mit der Dose loslegen kann. „Das schwierigste sind die schmalen Striche“, erzählt 69, die das altersbezogene Kürzel cooler findet, als ihren Namen in der Zeitung zu lesen. Bei ihr scheint am meisten Potential für eine echte Straßenkarriere vorhanden zu sein. Sie übt unermüdlich weiter und geht am kritischsten mit dem Ergebnis um. „Ich kann schon verstehen, dass einige hier im Seniorenheim sauer sind wegen unserer Schmierereien, die müssen ja nun jeden Tag darauf gucken“, erklärt sie mitfühlend, aber schmunzeln muss sie dabei doch.

Neben den vereinzelten Buh-Rufer im Seniorenheim, gab es natürlich auch etliche Fans, die die Arbeiten der Graffiti-Gruppe vom Fenster aus beobachtet haben. Verhindern jedenfalls konnte die Arbeit niemand, denn dass die neun Kurs-Teilnehmer hier sprühen durften, wurde ganz oben beschlossen – auf Initiative von den Grünen in der Bezirksverodnetenversammlung.

Ob deine Großeltern bald Urban Artists werden können, wird sich noch zeigen: Der zunächst kostenfreie VHS-Kurs war ein Pilot nach dem Vorbild Lissabons, wo schon seit fünf Jahren Senioren auf Wände losgelassen werden. Ziel der portugiesischen Lata 65 ist es, ältere Menschen für die junge Kunstart zu begeistern und sie gleichzeitig aus ihrem Alltag zu holen. Die Berliner Senioren jedenfalls scheinen mit beiden Beinen im Leben zu stehen und die Hände immer frei zu haben für sprühende Ideen.

VHS City West, Pestalozzistraße 40-41, 10627 Berlin

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