Menschen stehen in Kreuzberg. Menschen mit Einkaufstaschen, mit dem Handy am Ohr, sitzend, kauernd, stehend, wartend, laufend. Regungslos. Sie sind in der Bewegung eingefroren, ihre Gesichter sind unkenntlich. Erst auf den zweiten Blick wird klar: Es sind lebensgroße Pappfiguren. Ihre Identitäten bleiben vernebelt, die Gesichter verschmiert und verpixelt wie in Google Street View.
Aus diesem virtuellen Geisterhaus stammen die „streetghosts“ von Paolo Cirio auch. Findet man einen der raren Pappkameraden in den Straßen Kreuzbergs und Mittes, dann haben sie ihr abfotografiertes Vorbild im digitalen Kartenprogramm. Funde gab es schon in der Görlitzer Straße, der Oppelner Straße, in der Adalbertstraße 9 und in der Rochstraße Ecke Dircksenstraße. Als vor einigen Jahren der Google-Wagen zum Ablichten der Straßen an den Orten vorbeifuhr, wurden die Passanten in ihrem Alltag mit aufgenommen – übrigens ohne darüber informiert worden zu sein. So wie Cirio mit seinen Figuren eine subtile Kritik an Google durch Straßenkunst durchführt, führt die Stadt übrigens eine rigide Politik der Aufräumarbeiten an Cirios Werken durch: Seine Kunst gilt als Vandalismus im öffentlichen Raum. Deshalb sieht man die Geister nur für wenige Tage an den jeweiligen Orten, bevor die Stadtreinigung sie entfernt.
Cirio gibt den damals abgelichteten Passanten wieder – wenn nicht ein Gesicht, so doch immerhin eine Stimme. Sie lassen (echte) Passanten aufschrecken oder sich einfach wundern und erinnern daran, dass irgendwann mal irgendwo ein Foto gemacht wurde – an genau dieser Stelle. Cirios Guerilla-Kunstwerke finden sich nicht nur in Berlin, sondern auch in London und New York. Wie grotesk es wäre, wenn der Straßen-Foto-Wagen ein zweites Mal vorbeiführe und ein Foto von einer der geisterhaften Foto-Figuren machen würde …