„Keine Meisterwerke mehr“, sang die Hamburger Band Tocotronic einmal. Was nach Kapitulation klingt, ist aber das wahre, schöne, gute Gegenteil – und die Programmatik der szenischen Lesungen am Gorki-Theater letztes Wochenende gewesen. „Bedenken Sie, alles hier ist work-in-progress“, leitete Marianna Salzmann, die Leiterin des Studio я im Maxim Gorki Theater, die performativen Stücke ein. Und sie sagte dies keinesfalls entschuldigend, sondern mit Stolz. Wie ein Magier, der seinen nächsten Zaubertrick einleitet: „Aber bedenken Sie – nichts ist, wie es scheint.“ Salzmann war es auch, die dem überregionalen Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext den wochenendlichen Unterschlupf und eine Bühne bot. Unter dem Titel „RAUŞ – NEUE DEUTSCHE STÜCKE“ trauten sich die in Heft 22 erschienenen Texte vor die ausverkauften Publikumstreppchen.
Nächstes Jahr als Buch oder Theaterstück
Noch ist nichts fertig. Am Samstag kam mit Deniz Utlus Prosa-Spaß „Abkommen“ zum Beispiel ein Stück Roman zum Vorschein. Die vorgetragene Episode dreht sich um einen jungen Mann, der lediglich aufgrund seines Status „mit Migrationshintergrund“ vom Bürgermeister zur Jubiläumsfeier des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens eingeladen wird. Natürlich hat dieser nicht die geringste Lust, sich dort als gestriegelter Pudel vorführen zu lassen und ist drauf und dran, ein heilloses Durcheinander während der Veranstaltung zu provozieren …
Zwischen Lesung und großer Leinwand
Deniz Utlus anarchisches Debut erscheint im Laufe des nächsten Jahres, im Studio я hatte der Jungautor aber schon mal Gelegenheit, der Publikumsresonanz zu lauschen. Es raisonierte während der späteren Autorengespräche an der Bar. Und es resonierte schallend und röhrend im Saal – nicht nur, weil die Schauspieler Wasser und Konfetti über sich erbrachen, sondern weil die Texte stimmen. Man bedenke: Die Dialoge werden mehr oder minder gelesen, immer wieder pointiert gespielt, aber doch vorgelesen.
Geht es in Georgia Dolls „ich waren wir wir waren ich“ um eine an ihrer Arbeit und Identität zweifelnde Wissenschaftlerin, so wird Dolls Text vom Forscherklemmbrett abgelesen. Juri Sternburgs „Wider die Natur! oder die Desintegrationsmaschine“ spielt – wenn nicht auf einem fremden Planeten – zumeist in einem Restaurant, da werden Texte aus der Menükarte vorgetragen.
Alles auf Anfang im Januar
„Vorstellung verpasst?“, fragt Hausautorin Salzmann in die Runde und meint weniger die An- als vielmehr die Abwesenden. Das Ballhaus Naunynstraße nimmt den Arbeitsprozess vom 10. bis zum 12. Januar wieder auf, zeigt alle Arbeitstitel, alle halbfertigen Bücher und Stücke noch einmal. Solche Lesungen bringen den Meta-Diskurs über die Frage, ob nur ein fertiges „Meisterwerk“ der Aufführung würdig ist oder nicht, voran. Denn was zwischen freitext-Magazin, Studio я und Ballhaus Naunynstraße an Rohschnitt wartet, weist auf die Vielschichtigkeit des Unfertigen hin.
Mehr Infos zu freitext und den Lesungen findet ihr hier.