Wenig hat im letzten Jahr in Berliner Kulturkreisen für so viel Aufruhr gesorgt, wie die Ankündigung des Intendantenwechsels an der Volksbühne. Die Fans waren bereit, Frank Castorf bis aufs Theaterblut zu verteidigen. Nun bleibt ihm nur noch ein Monat, dann muss er seine Koffer packen. Ein schwaches Herz ist seine letzte Inszenierung an dem Haus, das durch ihn seit 25 Jahren Kultstatus hat. Éinem Hurrikan gleich fegt dieser Abschiedsabend über die Bühne, mit ehrlicher Traurigkeit und morbider Komik, Videoschnitt und schauspielerischer Maßlosigkeit.
Schon der Raum erinnert an ein Theater nach der Sintflut. Das Bühnenbild präsentiert klassisches Mobiliar quer über die Bühne aufgereiht bis ins Parkett. Eine lange Kolonne, um die Schauspieler robben und flitzen werden. Das Publikum macht es sich auf Seesäcken bequem, wie schon bei den Brüdern Karamasow.
Traurige Geschichte über einen Kopisten
Ein schwaches Herz ist eine traurige kleine Erzählung Dostojewskis über den Schreiber Wassja (Georg Friedrich). Mit krummen Rücken und Hungerlohn gestraft, kann er sein Glück kaum fassen: Er hat sich mit seiner Traumprinzessin Lisanka (Kathrin Angerer) verlobt. Vor lauter Aufregung vernachlässigt er seine Arbeit. Als ihm klar wird, dass er seine Frist nicht einhalten kann, verliert er aus Scham den Verstand. Prompt wird er eingewiesen. Dabei war die Arbeit, wie man später erfährt, nicht einmal wichtig oder gar dringend.
Aber man würde sich sehr irren, wenn man glaubte, Castorf würde sich in seiner Inszenierung mit der titelgebenden Erzählung zufrieden geben. Die Bühnenfassung bedient sich u.a. auch einer anderen Erzählung Dostojewskis, Bobok, über Tote, die während sie verwesen, in ihren Gräbern noch ein bisschen plaudern, und dem sowjetischen Kultfilm Iwan Wassiljewitsch wechselt den Beruf, dessen Held mit einer Zeitmaschine Iwan den Schrecklichen in seiner Wohnung heraufbeschwört. Castorf setzt sich über jegliche logische Zusammenhänge zwischen der Zeitmaschinen-Verwechslungskomödie, dem Totentanz und der Geschichte über unerträgliches Glück in vollendeter Lässigkeit hinweg.
Das Schicksal der Volksbühne schwingt mit
Die Schauspieler taumeln durch die Identitäten und als Zuschauer fühlt man sich oft ziemlich verloren. Aber Stilbrüche und schlitternde Übergänge sind eben das, was wir von Castorf kennen. Das Stück wurde in kürzester Zeit auf die Bühnen-Beine gestellt, weshalb es längst nicht so vollendet wirkt wie zuletzt Castorfs Faust. Auch die Souffleuse hat einen harten Job, spricht sie fast so viel Text ein, wie das Manuskript hergibt. Aber die unverhohlene Imperfektion hat ihren Charme. Und wird gut gemacht – herausragend sind die berührenden Szenen, als zum Beispiel Wassja mit seiner Feder fieberhaft in die Luft schreibt oder als Wassja und Lisanka sich über die Stoffpuppe eines Jungen annähern. Vor allem Georg Friedrich, der Wassja mit einer Sanftheit spielt, die unter die Haut geht, beeindruckt – gleich darauf kippt die Stimmung durch die Komik des wutentbrannten Zaren (Daniel Zillmann) oder den Galgenhumor der Toten, die über offene Rechnungen, pfuschende Ärzte oder die ungestillten Gelüste einer verstorbenen Dame auf Jünglinge herziehen und in deren Gebrabbel immer auch das Schicksal der Volksbühne mitschwingt.
Das ist die Volksbühnen-Coolness, die wir alle vermissen werden. Diese Kunst, uns über vier Stunden locker zu unterhalten und manchmal gnadenlos wachzuhalten. Als ohrenbetäubend Something Blue von Elvis eingespielt wird, könnte man fast sentimental werden. Leider wird es in der Realität keine Rot blinkende Zeitmaschine geben, um demnächst in die Volksbühnen-Vergangenheit zu reisen. Aber man kann hoffen, dass Castorf wie Dostojewskis Tote keine Ruhe geben wird, und man ihn mit seinen Stars ab Herbst dank Peymann-Nachfolger Oliver Reese gewohnt laut und schrill als Gast im Berliner Ensemble erleben kann.
Nächste und letzte Vorstellungen am 10. und 30. Juni 2017 in der Volksbühne.