Milch, Maracujasaft und Weinbrand – das sind die Zutaten einer Tigermilch, die sich die zwei Schülerinnen Nini (Flora Li Thiemann) und Jameelah (Emily Kusche) auf der Toilette für den Kick zwischendurch mischen. Milch als die Wunderwaffe aus der Werbung für Heranwachsende und süßer Saft zur Überdeckung des stechenden Alkoholgeschmacks: Das Getränk steht sinnbildlich für die Lebensphase, in der sich die beiden 14-Jährigen befinden. Bereit, um alles zu tun, was Erwachsene dürfen, aber nicht bereit für die mitschwingende Verantwortung.
Nini und Jameelah sind seit zehn Jahren beste Freundinnen und leben in nahe gelegenen Sozialwohnblocks. Statt Tristesse und grauer Betonmauer-Wüste wirkt das Leben hier fröhlich und so, als würde man fest zusammenhalten. So ist Nini Dauer-Übernachtungsgast bei ihrer Freundin und deren Mutter Noura, die für die beiden Abendessen kocht. Der Spielplatz zwischen den Wohnanlagen wird zum Treffpunkt für die Kids und das Hochhausdach der geheime Ort für Mädchen-Gespräche. Hier gibt es auch so Perlen zu hören wie: „Ich fühle mich wie ein Dönerrest auf einem Teller – einfach so zurück gelassen“, sagt Jameelah, als sie Liebeskummer hat.
Ringelsöckchen für den Sex-Appeal
Alleine dieser Spruch zeigt deutlich: Berlin ist das Wohnzimmer der beiden. Die U-Bahn wird zum Schmink-Tisch und Café, das Freibad zum Dating-Hotspot und die Straßen zum Abenteuerspielplatz. Hier testen die beiden ihre Grenzen aus: Da wird schon mal „Nazi, Jude, Scheide und Ficken“ lauthals geschrien, um die Reaktion der Passanten abzuwarten. Richtig ernst wird es allerdings, als die beiden mit gestohlenen Overknee-Ringelsöckchen und auf hohen Schuhen an den Straßenstrich an der Kurfürstenstraße wackeln.
Sie wollen gewappnet sein und alles lernen für später. Wie schnell klar wird, ist das Freier abziehen, Alkohol trinken und sich dem Projekt Defloration widmen, wie die beiden so schön ihr erstes Mal beschreiben, eine Art des Ausbruchs. Denn um die Mädchen herum da brodelt es. Jameelah, die in der Schule beste Noten schreibt, floh mit ihrer Mutter aus dem Irak, als Vater und Bruder ermordet wurden. Die kleine Familie wartet sehnsüchtig auf die Einbürgerung, doch noch ist der alles rettende Brief vom Amt nicht da. Nini wiederum hat mit einer Mutter zu kämpfen, die mit der Couch verheiratet ist. Mutter Annika ist gebannt von Reality-TV und vergisst so Ninis kleine Schwester, die gerne am Eierlikör nippt.
Ninis bester Freund Amir (David Ali Rashed) muss sich nicht nur die Hänseleien der Mitschüler wegen seines kleinen Körperbaus anhören, sondern steht auch in seiner Familie zwischen den Stühlen. Schließlich liebt seine Schwester Jasna (Luna Zimic Mijovic) den Serben Dragan. Das geht für den Bruder Tarik (Alexandru Cirneala) zu weit, schließlich sind für die bosnische Familie die Kriegserfahrungen noch zu nah.
Weg von der Teenie-Film-Hölle
Wer bei dem Plakat von Tigermilch denkt: „Nicht noch ein Teenie-Film“, der sollte das gleich wieder vergessen. Der Film von Ute Wieland ist ein überraschend ehrliches Porträt einer Zeit, die so wichtig ist für das spätere Leben. Der Zuschauer wird ganz nah an die Gefühlswelt der Mädchen herangebracht. Dafür sorgt die genutzte Technik wie Handkamera, aber auch das sehr überzeugende Spiel der beiden Hauptdarstellerinnen, die eben genau das Alter der Protagonistinnen haben. Diese Casting-Entscheidung zahlt sich voll aus, was die Authentizität betrifft.
Tigermilch ist aber kein Film nur aus Kinder-Augen, schließlich werden in der Coming-of-Age-Story viele Themen verhandelt, die uns als Gesellschaft betreffen. Ehrenmord, Abschiebung, Kriegsrückkehrer, Kinderprostitution – die Geschichte ist mutig und real, wie man auf der Straße wohl sagen würde. Der Film basiert auf dem viel gelobten gleichnamigen Roman von Stefanie De Velasco, die als Krankenschwester übrigens auch einen Auftritt hat.
Die junge Autorin wurde in der Presse für die Sprache und für ihre gut beobachtete Milieu-Studie gelobt. De Velasco nimmt die Vielseitigkeit Berlins und zeigt daran, wie sich schon die Jüngsten ihrer Umgebung durch ihr toughes Verhalten anpassen. „Ich habe lange in Neukölln gewohnt und im Bekanntenkreis mitbekommen, mit welchen Dingen man sich da herumschlagen muss. Das ist etwas anderes als bei Mädchen, die in Zehlendorf Blockflöte lernen und den Rest des Tages an ihrer WhatsApp hängen„, so die Autorin in der Pressenotiz zum Film. Der Regisseurin Ute Wieland ist die filmische Übersetzung hervorragend gelungen und auch sie beweist Mut: Schließlich lässt sie das mit dem Happy End, sondern geht die Entwicklung über die Sommerferien zum Erwachsen werden mit und da bleibt einem nichts anderes übrig, als das Kratzen im Hals zu akzeptieren.
Der Film Tigermilch startet ab 17. August 2017. Der Film läuft in vielen Berliner Kinos: Von Moviemento bis hin zu den Cinestar-Ketten.