
Gregor Sander: Lenin auf Schalke
Weißt du eigentlich, was Zonen-Gaby heute macht? Das – und vieles mehr – erfährst du in Gregor Sanders Buch „Lenin auf Schalke“. Sanders literarisches Alter Ego wird in diesem kleinen, feinen Meisterstück nach Gelsenkirchen geschickt, um über den Osten im Westen einen Roman zu schreiben. Jahrzehntelang seien die Ossis seziert, beobachtet und beschrieben worden, nun sei es an der Zeit, den Spieß umzudrehen, meint Schlüppi, Sanders Freund. Recht hat er: Charmant und mit viel Humor setzt sich Sander dann tatsächlich mit der ärmsten Stadt des Landes auseinander, zieht Vergleiche zu seiner Heimat und wundert sich. Dabei fehlt jede Art von Arroganz, die bei den Pendants der Wessis oft spürbar ist. In diesem Buch treffen liebenswerte Menschen aufeinander und so betrachtet man die Misere von Gelsenkirchen – zwischen stillgelegtem Bergbau und gescheiterter Migration der sogenannten „Gastarbeiter“ – mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
„Lenin auf Schalke“ von Gregor Sander ist im Penguin Verlag erschienen und als Taschenbuch für 12 Euro im Handel erhältlich.

Emiko Jean: Mika im echten Leben
Emiko Jean braucht nicht lange, um uns in das Leben von Mika hineinzuziehen. Mit lässiger Sprache und klaren Situationen erkennen wir gleich, welches Dilemma sich da anbahnt, als Mikas Tochter Penny unerwartet auftaucht. Sie hatte das Mädchen zur Adoption freigegeben. Um nicht als Versagerin dazustehen, schmückt Mika ihr Leben ganz schön aus. Völlig normal in Zeiten von Social Media. Doch irgendwann müssen die Filter und Filler weichen. Klingt vorhersehbar, ist es nicht. Denn Emiko Jean schafft es, uns immer wieder zu überraschen, mit klugem Witz statt Zeigefinger zu unterhalten und Emotionen nie kitschig wirken zu lassen. Eine ideale Strandlektüre, die nicht nur an der Oberfläche plätschert, sondern dank angenehmem Tiefgang keine Leseminute verschwendet.
„Mika im echten Leben“ von Emiko Jean ist im dtv erschienen und als Taschenbuch für 16,95 Euro im Handel erhältlich.

Hayley Scrivenor: Dinge, die wir brennen sahen
Dieser Kriminalroman ist eigentlich gar keiner, denn Hayley Scrivenor erzählt die grausige Geschichte eines Mords vor allem aus der Perspektive von Kindern. Dadurch stehen scheinbare Nebensächlichkeiten im Fokus, ungewöhnliche Situationen, aber auch ehrliche Gedankengänge. Die Beschreibungen von Scrivenor sind so mächtig, dass man alles riechen, spüren und schmecken kann – selbst furchtbare Dinge wie einen Leichenfund. Um die Aufklärung des Falls kümmert sich Detective Sergeant Sarah Michaels, kein Supercop, sondern in erster Linie ein Mensch. Das Einzige, was „Dinge, die wir brennen sahen“ mit anderen sehr guten Krimis verbindet, ist die Spannung, die gekonnt bis zum Ende hochgehalten wird. Bevor du das Buch liest, solltest du zusehen, dass es dir gut geht, weil es dich auf eine Weise emotional packen wird, als hättest du das Mordopfer gekannt.
„Dinge, die wir brennen sahen“ von Hayley Scrivenor ist im Eichborn Verlag erschienen und als Hardcover für 22 Euro im Handel erhältlich.

Jochen Gutsch und Maxim Leo: Frankie
Die Inhaltsangabe des Romans klingt absurd: Ein zerzauster Kater namens Frankie rettet dem Selbstmordwilligem Richard Gold das Leben – das ist der Beginn einer tierischen Freundschaft. Doch trotz schräger Situationen und viel Humor gelingt es den Autoren Jochen Gutsch und Maxim Leo mit der Geschichte zu berühren. Sie nehmen beide Charaktere sehr ernst und vermeiden so gekonnt Pathos. Dass Frankie sprechen kann, ist dabei so normal wie Golds Traurigkeit. Das Buch ist also kein typischer Katzenroman voller Niedlichkeiten und Nippes, sondern ein fast philosophisches Werk, das sich zum Glück nicht als solches ausgibt. Ob es ein Happy End gibt, sei nicht verraten. Spoilern können wir aber, dass man am Schluss auf jeden Fall traurig ist, weil man so gern noch weitergelesen hätte.
„Frankie“ von Jochen Gutsch und Maxim Leo ist im Penguin Verlag erschienen und als Hardcover für 22 Euro im Handel erhältlich.

Denene Millner: Die Farbe meines Blutes
Es ist kein leichter Stoff, den die Journalistin Denene Millner in ihrem Debüt verarbeitet. Es geht um Generationen von afroamerikanischen Frauen, die auf unterschiedliche Weise mit Rassismus zu kämpfen haben, aber auch mit der eigenen Kultur und den Lebenswegen, die ihnen vorbestimmt zu sein scheinen. Klingt nach hartem Tobak, ist es auch. Doch der Roman ist so gefühlvoll und detailreich geschrieben, dass er in deinem Sommerurlaub nicht fehlen darf. Der Mix aus nahezu poetischen Weisheiten, glasklaren Beobachtungen und ungeschönten Wahrheiten lässt dir keine andere Chance, als dich hineinziehen zu lassen. Denn was Rubelle, Bassey, Grace und Rae erleben, ist vielleicht ein ganz anderes Schicksal als dein eigenes, aber die feinen Strukturen innerhalb von Familien und die Suche nach dem eigenen Weg zwischen Erwartungen, Hoffnungen und Enttäuschungen kennst du sicher auch.
„Die Farbe meines Blutes“ von Denene Miller ist im Goldmann Verlag erschienen und als Hardcover für 22 Euro im Handel erhältlich.

Susanne Matthiesen: Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehen
Der Sylt-Bestseller ist nun als Taschenbuch erschienen und bereit, auch an Stränden anderer Trauminseln gelesen zu werden. Die Wahlberlinerin Susanne Matthiesen verarbeitet in diesem Roman ihre Jugend in den 1980er Jahren und den kürzlichen Lockdown, der ihre Heimatinsel Sylt kurzzeitig von den Tourist*innen befreite. Die Stille führt die Bewohner*innen zurück in eine Zeit, bevor die Besuchermassen das kleine Paradies für sich entdeckt haben. Man bekommt Einblicke in die alte Dorfgemeinschaft und lernt besondere Charaktere kennen, die das Bild von Sylt prägen. Das funktioniert auch für Leser*innen, die noch nie auf Westerland waren. Gehört hat schließlich jeder schon von dem teurem Eiland der Protzer und Möchtegerns. „Auf Sylt muss alles ein Preisschild haben, sonst ist es nichts wert“, schreibt die Autorin, die uns zugleich zeigt, was die Insel im echten Leben ausmacht. Klar bekommt die titelgebende Band „Die Ärzte“ hier einen kleinen Gastauftritt – im Kursaal am Strand.
„Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehen“ von Susanne Matthiesen ist im Ullstein Verlag erschienen und als Taschenbuch für 12,99 Euro im Handel erhältlich.

Jörg Thadeusz: Steinhammer
Jörg Thadeusz ist ein Erzähler und das merkt man seinen Büchern immer an. Während andere Schriftsteller schwere Themen bis zum Schmerz ausloten, setzt er lieber auf Unterhaltung. So ist „Steinhammer“ trotz der Tristesse und Spießigkeit im Nachkriegsdeutschland ein leichtes Sommerbuch, in dem uns das Leben von Edgar Woicik zumeist wortwitzig präsentiert wird. Dortmund der 1950er Jahre: Der junge Edgar, der eigentlich etwas Anständiges lernen soll, interessiert sich für Kunst. Tatsächlich gelingt es ihm, sein Talent als Schaufensterdekorateur so zum Ausdruck zu bringen, dass er entdeckt wird und an die Kunsthochschule nach Düsseldorf wechselt. „Steinhammer“ überzeugt vor allen Dingen durch die Beschreibungen des Ruhrpotts und die Figuren, die nicht in gängige Muster passen: wie die Menschen, die den Krieg hinter sich lassen wollen, aber nicht vergessen können, aber auch die Kunststudent*innen, die zwischen Hochmut und Unsicherheit die Hoffnung auf eine bessere Zukunft pflegen. Inspiriert wurde Jörg Thadeusz von seinem Großcousin Norbert Thadeusz, ein Meisterschüler von Joseph Beuys.
„Steinhammer“ von Jörg Thadeusz ist im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen und als Hardcover für 23 Euro im Handel erhältlich.

Paul Bradley Carr: 1414°
Es gibt erste Sätze, die ziehen dich sofort ins Buch. „Joe Christian vermisste seine Augenbrauen“, ist so ein Satz, schließlich fragt man sich sofort: Warum und was ist passiert? Antworten gibt dir der Autor Paul Bradley Carr, der sich beruflich als Journalist schon länger mit der dunklen Seite des Silicon Valley beschäftigt. In seinem Debütroman „1414°“ nutzt er sein Wissen für eine fiktionale Story, in der die Journalistin Lou McCarthy die dreckigen Machenschaften der Mächtigen des Tals aufzudecken versucht. Der Sumpf aus Machtmissbrauch ist tief und Me-Too bleibt hier noch ungehört. Zwei Selbstmorde drehen allerdings das Blatt und plötzlich sitzt McCarthy selbst auf der Anklagebank. Carr gelingt es, die Charaktere präzise zu zeichnen und die Story voranzutreiben. So ist „1414°“ ein unterhaltsamer Thriller, der dich in die Szene der Start-ups eintauchen lässt und dabei über ein simples Whodunit-Konzept hinausgeht.
„1414°“ von Paul Bradley Carr ist im Goldmann Verlag erschienen und als Taschenbuch für 16 Euro im Handel erhältlich.

Richard Russo: Mohawk
Warum hat das nur so lange gedauert, den Roman ins Deutsche zu übersetzen? Der Debütroman von Richard Russo begeisterte bereits 1986 die englischsprachige Leserschaft. Dabei ist der Roman nicht reißerisch und laut, sondern still und in sich gekehrt. Der titelspendende Ort Mohawk ist ein vergessenes Kaff, das droht Mitte der 1960er Jahre völlig unterzugehen. Die Gerberei wurde geschlossen, die vielen Männern Arbeit verschafft hatte. Das Grundwasser ist durch den Betrieb ordentlich verseucht. Obwohl es hier nichts gibt, was einen halten könnte, scheinen die Einwohner*innen festzusitzen. Ihre Gedanken und ihr Schicksal beschreibt Russo so intensiv, dass man ihnen gern mehr Hoffnung schenken würde. Aber keine Sorge, der Roman zerstört nicht deine Urlaubsstimmung: Russos Sinn für humorige Situationen, seine Genauigkeit und seine Intensität machen „Mohawk“ zu einem liebenswerten Buch, das dir zwar die hoffnungslosen Strukturen einer amerikanischen Kleinstadt vor Augen führt, dir aber zugleich das Gefühl gibt, dass in deinem Leben noch Platz für Träume ist.
„Mohawk“ von Richard Russo ist im Dumont Verlag erschienen und als Hardcover für 26 Euro im Handel erhältlich.

Frederick Kohner: Gidget
Die meisten Väter sind wohl stolz auf ihre Kinder, egal was aus ihnen wird. Frederick Kohner, Drehbuchautor in Hollywood, schreibt seiner Tochter einen ganzen Roman, um seiner Liebe Ausdruck zu verleihen. „Gidget“ – eine Zusammensetzung aus girl-Mädchen und midget-Zwerg – ist die Geschichte von Kathy und ihren Erlebnissen am Strand von Malibu. Dabei lässt der Autor kein Thema aus – auch nicht die aufblühende erste Liebe, mit der Väter ja angeblich Probleme haben. Unglaublich modern und mit einer erfrischenden Leichtigkeit beschreibt Kohner die Welt der Teenies und Twens: in allen Facetten. Dass das Original bereits 1957 erschienen ist, vergisst man direkt nach dem Vorwort. Die Erstausgabe hat der gebürtige Österreicher selbst übersetzt, dieses Mal ist es Hanna Hesse. Vielleicht liegt es daran, dass sie Jahrgang 1984 ist, oder daran, dass sie in Oxford und Berlin aufgewachsen ist: Hanna Hesse bringt Kohner schlicht und lebendig auf den Punkt.
„Gidget“ von Frederick Kohner ist im S. Fischer Verlag erschienen und als Hardcover für 22 Euro im Handel erhältlich.