Andreas Ulrich hat bis 1970 in der Torstraße 94 gewohnt. Beziehungsweise in der Wilhelm-Pieck-Straße 94 – so hieß sie bis 1994. Und als das Haus 1890 gebaut wurde, lautete die Anschrift gar Lothringer Straße 63.
Heute lebt der rbb-Moderator wieder in der Gegend, nur ein paar Fußminuten entfernt. Und lässt mit seinem Buch Erinnerungen an das Haus seiner Kindheit aufleben. Oft mit einem Augenzwinkern. Emotional berührend. Aber auch geschickt recherchiert. Schließlich standen lediglich die Hausbücher aus den 60er Jahren zur Verfügung, in die sich aber immerhin jeder eintragen musste, der hier ein- und ausging.
Der Mikrokosmos Torstraße 94 erzählt Geschichte
Der Autor hat sich mit etlichen seiner Vor- oder Vorvormieter oder auch deren Verwandtschaft getroffen, um zu erfahren, was aus seinen früheren Nachbarn geworden ist. Herausgekommen sind interessante Lebens-, traurige Kriegs- und emotionale Beziehungsgeschichten. Von 1978 bis 1989 wohnte hier der stellvertretende Parteisekretär aus dem Palast der Republik. Dann gab es noch einen Operetten-Star, ein angesagtes Model und eine Agentin. Mit Walter Pannewitz wohnte 1951 sogar der seinerzeit meist gesuchte Ganove Berlins, ein dreizehnfach vorbestrafter Tresorknacker, in dem Mietshaus.
Tatsächlich wohnt heute hier niemand mehr aus der Zeit vor 1990. Grund: die Mietpreiserhöhung. Für die 140 qm-Wohnung im Vorderhaus bezahlte man beim Einzug 1968 90 Mark Miete, nach der Wende waren es fast 1.000 Mark. Heute reicht das in Euro sicher nicht aus. Deswegen findet sich wohl auch nicht mehr so eine bunte Vielfalt an Menschen. „Nach einer halben Stunde weiß ich, dass in der Torstraße 94 zwei Professoren wohnen, Journalisten, Architekten und Neurologen. Die typische Mitte-Prenzlauer Berg-Mischung eben“, schreibt Ulrich. In der Gegend gibt’s natürlich auch ordentlich Prominenz, wie etwa Stern-Chefredakteur Hans-Ulrich Jörges, Ben Becker oder Wim Wenders.
Wo sich heute Shop, Bar und Galerie die Klinke in die Hand geben, war damals alles anders … Unten im Haus gab es eine Konditorei, die die besten Windbeutel in ganz Ostberlin machte. Und in den 50ern konnte man auf der Torstraße stundenlang Ball spielen. „Es war ‚die totale Kleine-Leute-Gegend‘, hier wurde berlinert, was das Zeug hält. Akademiker oder ‚Studierte‘ hat es hier nicht gegeben“, erzählt eine Anwohnerin.
Lust auf das Buch? Dann hör dir die Geschichten doch noch mal im Original an! Andreas Ulrich liest beispielsweise am 13. und am 24. Oktober jeweils um 18 Uhr in der Katholischen Akademie oder am 25. Oktober um 20 Uhr im Literaturhaus.
Aus der Reihe „Berliner Orte“: Andreas Ulrich – Torstraße 94, erschienen im be.bra verlag, 10 Euro.