Der Kebab-Grill auf dem Hansaplatz kann sich über Kundenmangel nicht beklagen. Alle Tische davor sind besetzt. Nur essen die meisten von ihnen nichts. Gramgebeugte Gestalten, zerfurcht von der Mühsal des Großstadtlebens, gezeichnet vom Leben und Scheitern, gehüllt in verwaschene Jacken im Kleiderkammer-Look, halten sich noch im Sitzen an Bierflaschen fest. Mitten auf dem Platz thront ein unangeleinter Boxer und guckt grimmig in die Gegend.
Die Fotografin, neu in der Stadt, umklammert ihre Kamera noch ein bisschen fester. Willkommen im Hansaviertel, beste City-Lage, Berlins Antwort auf Central Park West. „Und das soll Unesco-Weltkulturerbe werden?“, fragt die Fotografin ungläubig und fast ein bisschen erschüttert.
Jedes der 16 Bundesländer darf dabei nur zwei Vorschläge machen
Offiziell heißt das Projekt „Zwei Deutsche Architekturen: Karl-Marx-Allee und Interbau 1957“. Es befindet sich in Stufe zwei von vier Stufen insgesamt und steht derzeit noch in Konkurrenz mit dem Jüdischen Friedhof Weißensee, der ebenfalls unter den Bewerbern für das Weltkulturerbe ist. In diesem Sommer soll die abschließende Bewertung von Vertretern der Kultusministerkonferenz erfolgen, ob das Projekt nominiert wird für die deutsche Vorschlagliste. Jedes der 16 Bundesländer darf dabei nur zwei Vorschläge machen.
Der große Garten der leer stehenden Gaststätte ist voller Schutt und Müll. Ein paar Schritte weiter gibt es 10-Euro-Hosen zu kaufen, großgeblümte T-Shirts und Sportpantoffeln. Schon landet man an einem sogenannten „Dienstleistungscenter“, das von außen so schmuddelig wirkt, dass man es eher für eine gut getarnte Geldwäsche halten möchte, als für eine Reinigung mit angeschlossener Änderungsschneiderei und Schusterwerkstatt. Selbst gebastelte rosa Papierbuchstaben im Fenster versprechen auch noch Kopierdienste. Innen sieht es eng, dunkel und verkramt aus. Am verlassenen Manikürestudio um die Ecke klebt noch ein Kuckuck, der den früheren Betreibern das Betreten des Gebäudes verbietet.
Berlinale-Chef Dieter Kosslick engagiert sich für das Hansaviertel
Da Osteuropa als zu schwach besetzt gilt, wenn es um das Weltkulturerbe geht, stehen die Aussichten gut, dass Berlin dann auf der Vorschlagsliste des Auswärtigen Amtes landet. Käme die Nominierung durch, wäre das ein großer Vorteil. „Dann muss die Stadt was tun“, sagt die im Bürgerverein Hansaviertel engagierte Anwältin Antje Karin Pieper. „Wenn wir das Erbe bekommen, kann man das nicht weiter verkommen lassen.“ Bis dahin ist es freilich ein langer Weg. Drei bis fünf Jahre kann es locker dauern, bis der Titel schließlich verliehen wird. Allein die Bewerbung macht Hoffnung.
Bis die Inspektoren anreisen, muss sich allerdings noch einiges tun. In dem Springbrunnen auf der anderen Seite der Altonaer Straße, der vor nicht allzu langer Zeit für 400 000 Euro aufwendig saniert wurde, sprudelt aus Kostengründen kein Wasser. Im Brunnen fehlen Steinchen. Wer souvenirsüchtige Touristen im Verdacht hat, irrt. Die Tiergartener Krähen sind scharf auf den Kalk und hacken die denkmalgeschützten Mosaiksteinchen gleich mit heraus. Wenn Wasser drin wäre, kämen sie an den Kalk nicht heran. Aber wer soll das bezahlen?
Der Hansaplatz wird immer unwirtlicher
Vieles läuft schief am Hansaplatz. Wer die traurigen Gestalten hinter ihren Bierflaschen sitzen sieht oder die gelegentliche Alkoholleiche vor dem Pizzaladen auf der anderen Straßenseite, könnte darauf kommen, dass hier tatsächlich die Kaufkraft fehlt für ordentliche Läden. Es gab sie ja mal, den Butter Lindner, die Parfümerie Bubi Scholz. Wo jetzt der Spätkauf mit seiner kitschigen Leuchtreklame gegen jeglichen Denkmalschutz verstößt, war einst ein hochseriöses Fotofachgeschäft. Genehmigungen für den Ausschank gibt es ebenso wenig wie für die Präsentation der 10-Euro-Gummizughosen auf öffentlichem Straßenland. Je unwirtlicher der Platz wirkt, desto mehr Anwohner tragen ihr Geld lieber anderswo hin, in die propere türkische Reinigung ein paar Straßen weiter zum Beispiel. Es gibt ja einige ordentliche Läden, die Apotheke, das Weingeschäft des Bürgervereins, den Rewe-Supermarkt, den kleinen Schreibwarenladen mit angeschlossener Post.
Aber es gibt eben kein stimmiges Gesamtangebot. Längst wohnen wieder wohlhabende Leute im Hansaviertel, die Lage ist höchst attraktiv. Nur gelingt es bis heute nicht, die gesetzlichen Möglichkeiten wirklich durchzusetzen. Könnte man dort nicht so gemütlich beim Bier campieren, würden die Obdachlosen sich andere Treffpunkte suchen. Die fühlen sich auch deshalb zu Hause, weil der U-Bahnhof ein sogenannter Wärmebahnhof ist, in dem wohnungslose Menschen bei großer Winterkälte Schutz suchen können. Systematisch hat man jetzt die Eigentümer der Gebäude angeschrieben. Das Gebäude, in dem das Gripstheater, Deutschlands berühmtestes Jugendtheater, untergebracht ist, gehört den Fundus-Fonds-Verwaltungen. An gutem Willen fehlt es nicht. Die Aussicht aufs Weltkulturerbe hat der traditionsreichen Nachbarschaft noch mal einen Adrenalinstoß gegeben.