Der Ortsteil im Nordwesten von Treptow-Köpenick hatte lange Zeit nicht viel mehr Attraktionen zu bieten als die Spreehöfe mit dem dortigen Kino, einer Billardfabrik, einer Bowlingbahn, einem Pub und einer Discothek (nein, „Club“ konnte man das nun wirklich noch nicht nennen). Die Industriebauten an der Spree gehörten irgendwie dazu, standen im Grunde aber ohnehin nur unter Denkmalschutz und erfuhren vom Großteil der Anwohner keine besondere Beachtung – so zumindest mein Eindruck, als ich während meiner Schulzeit hier lebte. Allerdings hat sich einiges geändert. Kino, Billardfabrik und Co. bieten die Spreehöfe zwar nach wie vor, sie wirken allerdings im Schatten des Industriesalons Schöneweide oder der Kunst am Spreeknie bestenfalls als kleines Licht. Ein Gründerzentrum der Industrie in Berlin wird hier zur Wiege des Kreativen. Abseits der mit der HTW und den Industriehallen gespickten Wilhelminenhofstraße ist davon allerdings noch wenig zu sehen.
Oberschöneweide, das ist eben nicht nur die Wilhelminenhofstraße mit ihren asiatischen Läden und Imbissbuden. Der Ortsteil erstreckt sich am nördlichen Ufer der Spree vom berühmten Funkhaus in der Nalepastraße über die Wuhlheide mit ihrer Parkbühne bis hin zum Mellowpark im Osten. Im Norden und Osten ist Oberschöneweide also besonders grün. Doch zwischen den Verkehrsschwerpunkten der Straße an der Wuhlheide, der Edisonstraße und der Wilhelminenhofstraße gibt es ein dicht bebautes Wohngebiet, von dem wir in unserem Kiezspaziergang einen Eindruck gewinnen wollten. Zentral für das Unternehmen ist die Griechische Allee mit dem in ihrer Mitte liegenden Griechischen Park. Von hier aus schwärmen wir nach links und rechts die anliegenden Straßen hoch und runter.
Von der lauten und trostlos wirkenden Edisonstraße kommend beginnt die Griechische Allee mit einem von ein paar Betonbänken gesäumten quadratischen Platz, an dessen Enden ein paar Glascontainer, beziehungsweise eine City-Toilette thronen. Außer Döner und einer physiotherapeuthischen Behandlung scheint hier erst mal nicht viel zu holen zu sein, allerdings lädt die Katholische Kirche St. Antonius dazu ein, sich tiefer in das Wohngebiet zu wagen. Neben dem im Jahr 1907 erbauten Gotteshaus informiert eine Tafel über die Geschichte des grauen Platzes: Es handelt sich um einen Marktplatz, der ebenfalls vor nunmehr 107 Jahren erbaut wurde. Tatsächlich findet hier noch heute donnerstags und samstags der Wochenmarkt der Griechischen Allee statt.
Wer es am Markt vorbei geschafft hat, der betritt den wohnlichen Teil des Kiezes. Und das Wohnen scheint hier tatsächlich im Vordergrund zu stehen. Läden und Gastronomie sind in den schmalen, bei Dunkelheit von alten Ostlaternen in warmem Orange erleuchteten Straßen kaum vorhanden. Hat man den Bäcker und den Späti am Beginn der Allee hinter sich gelassen, kommt eine ganze Weile nichts – das heißt, wenn man von medizinischen Praxen und Kindertagesstätten absieht. Auffällig ist neben den vielen Kindergärten auch die Menge an Schulen, die uns bei der Kiezbegehung begegnen. Kein Wunder, dass vier von ihnen nur wenige Gehminuten voneinander entfernt liegen. Im Ortsteil gibt es ganze zehn!
Ein familienfreundliches Wohngebiet mit ruhigen Straßen
Das macht insofern Sinn, als dass man hier tatsächlich unglaublich vielen Kindern auf den wenig befahrenen Straßen begegnet. Viele Mütter säuseln ihren Sprößlingen slawische Weisen zu und erstaunlich viele der ganz Kleinen sind mit ihren Vätern unterwegs. Schon in der Tram vom Bahnhof Schöneweide fiel ein Vater auf, der an der einen Hand den kleinen Ludwig mit Filzhose, Lederschlappen und Fliegenpilzmütze und in der anderen Hand einen Kasten naturtrüben Apfelsaft hielt. Jetzt spielen auf der kleinen Parkanlage und den Spielplätzen Väter mit ihren Jungs Fußball, auf dem Nachhauseweg Verstecke oder schieben den Sportbuggy mit Sohnemann durch die Gegend. Vermutlich ist das nicht das erste Bild, das den meisten durch den Kopf schießt, wenn sie an Oberschöneweide denken. Harmonie pur! Wer es aus dem Stadtzentrum hierher schafft, dem wird nicht nur auffallen, dass es hier besonders idyllisch ist, sondern auch, dass man in diesem Wohngebiet seine Nase statt mit Abgasen mit dem Duft von Bäumen und Laub verwöhnen kann.
Die Griechische Allee endet an einer weiteren Kirche, der Evangelischen Christuskirche, die, Überraschung, auch eine Kindertagesstätte betreibt. Dazwischen, in den Seitenstraßen, die nach deutschen Dichtern benannt sind: Häuser aus der Gründerzeit, Häuser mit Fensterläden, Vorwendebauten und Neubauten. Einige der Fenster sind auch Anfang November schon mit Lichterketten geschmückt, viele Häuser schließen begrünte Innenhöfe ein.
Erst nach dem Ende der Griechischen Allee, je näher wir dem Campus der HTW und dem Technologie- und Gründerzentrum am Spreeknie kommen, stoßen wir wieder auf mehr Geschäfte und Gastronomie. Hierzu zählen ein Gemüsehändler, ein Bäcker, Cafés in der Firlstraße oder der Rathenaustraße, zwei Kneipen, ein Restaurant. Tatsächlich lassen sich zumindest die Läden, die wir erlaufen haben, noch nahezu an zwei Händen abzählen. Vor allem ein bunter Fahrradladen und ein Laden für Kindersachen lassen den angeblichen Wandel im Kiez erahnen. Ich vermute, dass auch der kleine Ludwig aus der Bahn hier ausgestattet wurde. Die Klamotten für die Kleinen sind nachhaltig, biologisch und fair, handgemacht und wachsen mit. Na, wenn da mal nicht die Mitte-Mama große Ohren bekommt und sich direkt auf den Weg nach Oberschöneweide macht.
„Zwei Stunden bin ich durch den Kiez gelaufen, ohne dass mir langweilig geworden ist. Und weil ich aus der Ecke komme, weiß ich, dass es noch viel mehr zu sehen gäbe! Ein warmer Herbstabend war genau der richtige Zeitpunkt, um die Straßen in Oberschöneweide neu zu entdecken.“