Die Volksbühne gilt seit mehr als zwei Jahrzehnten als Kultstätte des modernen Theaters und die Tate Modern als einzigartige Institution für moderne Kunst. Was Frank Castorf in den letzten 25 Jahren erschaffen hat, ist ohne Frage beeindruckend. Wie Chris Dercon das Museum zum Publikumsmagneten gestaltet hat auch. Und dennoch gilt der eine in Berlin als Held, der andere als Zerstörer, bevor er überhaupt angetreten ist. Ist das fair?
Kaum Freunde, nur Feinde
Eigentlich heißt es doch, wenn es am schönsten ist, solle man gehen: Das Problem dabei ist, dass Frank Castorf freiwllig nicht gehen wollte und dass jemand berufen wurde, der sich in Theaterkreisen noch gar keinen Namen gemacht hat. Im Gegenteil: Chris Dercon gilt als Marketing-Genie, als erfolgreicher Eventmacher, als multimedial denkender Museumsdirektor. Aber hat er Ahnung von der holden Theaterkunst? (EX)Berliner Ensemble-Intendant Claus Peymann zweifelt öffentlich an Dercons Qualifikationen, Theater- und Filmregisseur Leander Haußmann (Sonnenallee, Herr Lehmann ) wettert, Berlin werde von Managern übernommen, und sogar Kultursenator Klaus Lederer, der die Intendantenwechsel-Entscheidung seinem Vorgänger Tim Renner zu verdanken hat, spricht davon, dass die Ach-so-volksnahe Volksbühne durch Dercon zu einem „neoliberalen Kunstbetrieb mit globaler Jetset-Attitüde“ verkommen könnte.
Wenn man diese totale Ablehnung eines Neuanfangs betrachtet, könnte man meinen, die einstigen Enfants Terribles der Volksbühne sind spießig geworden. Boykottieren sie die Veränderung, weil sie von außen kommt? Gut, Castorf selbst hat die Volksbühne einst aus einer mehr als dreijährigen Krise befreit, allerdings hatte er sie 2005 nach den höchst erfolgreichen Anfangsjahren in den 1990ern genau dort hinein manövriert. Es hieß damals, die Volksbühnen-typische Theatersprache sei nur noch eine Ansammlung von Selbstzitaten und jede Inszenierung eine Kopie, der Kopie einer Kopie eines einstigen Volksbühnenhits. Die Intellektuellen, die Frank Castorf zum Retter des deutschsprachigen Theaters ernannt hatten, verteufelten ihn, bis er es nach einer aufwendigen Sanierung des Hauses und eines mühsamen Comebacks Ende 2009 schaffte, ein neues begeistertes Publikum aufzubauen. Diese Fans halten ihm die Treue und auch die alten Größen, die nach der Krisenauszeit an die Volksbühne zurückgekehrt sind, wollen mit dem neuen Intendanten aus Prinzip nichts zu tun haben.
Zeichen setzen, Zeichen nehmen
Damit Berlin auch wirklich merkt, dass hier eine Epoche zu Ende geht, ließ Frank Castorf das OST-Zeichen vom Dach der Volksbühne entschweben, obwohl es ihm eigentlich nicht gehört. Das Räuberrad, das Wahrzeichen und Markensymbol der Castorf-Volksbühne, sollte folgen, doch es hielt am historischen Boden fest. Denn ob es nach dem geplanten Ausflug zum Gastspiel der Volksbühnentruppe in Avignon und einer Sanierung zurückkehren würde, war und ist ungewiss.
Und Chris Dercon? Der nimmt all das zu Kenntnis mit der Souveränität, die ihm auch der offene Brief nicht nehmen konnte, in dem sämtliche Künstler sich gegen ihn als Intendanten aussprachen. Die Hand, die er seinen Gegner reichte, nahm niemand an. Dercon, der sogar gern mit den Castorf-treuen Künstlern gearbeitet hätte, bekam eine klare Abfuhr von Regisseuren wie René Pollesch und Herbert Fritsch und Schauspielern wie Martin Wuttke, Katrin Angerer und Sophie Rois. Zum Glück steht Dercon nicht ganz allein da, an seiner Seite kämpfen unter anderem Filmregisseur Romuald Karmakar, der mit Der Totmacher bewies, wie theaternah Film sein kann, und Film-Intellektuellen-Urgestein Alexander Kluge.
Die Pläne
Und auch das Publikum könnte eigentlich erfreut feststellen, dass es für einen Verlust gleich unzählige Neuheiten bekommt. Dercon wird nicht nur die Volksbühne bespielen, sondern auch das Tempelhofer Feld und den Berliner Stadtraum. Hinzu kommt die digitale Spielstätte Volksbühne Fullscreen. Ein Stadttheater ohne Grenzen. Mit Kunst, Tanz, Schauspiel und jede Menge Enthusiasmus, Großartiges entstehen zu lassen. „Was unser Programm versammelt, ist das, was wir lieben, wovon wir träumen, was uns befremdet, was uns magisch anzieht“, erzählt Dercons Programmdirektorin Marietta Piekenbrock. Ganz ehrlich: Das klingt nicht schlecht und keineswegs nach einem durchkalkulierten Betrieb, der sich mehr für die Wirtschaftlichkeit interessiert als für die Kunst. Zumal in anderen Kreisen der gebürtige Belgier Dercon als versierter Umkrempler und international denkender Ideenfänger gilt. Überlassen wir doch dem genialen Heiner Müller, der als Autor auch an der Volksbühne Jahrzehnte lang gefeiert wurde, das Schlusswort: „Damit etwas kommt, muss etwas gehen.“ Das Zitat ist übrigens nicht uns eingefallen, sondern Chris Dercon.
Nach der letzten Vorstellung Baumeister Solness wird am 1. Juli gegen 20:30 Uhr das Theater von Castorfs Truppe dicht gemacht und auf dem Rosa-Luxemburg-Platz mit musikalischen und kulinarischen Leckerbissen ordentlich gefeiert. Eingeladen ist (angeblich) jeder… der Eintritt ist frei.