Farbe und Bewegung kommt ins Spiel, nachdem es lange Zeit so schien, als ob in der südlichen Friedrichstadt alles so bliebe, wie es vor einem halben Jahrhundert angelegt worden war: Mietshäuser, Schulen, Kindergärten, eine Kirche. Alles aus Beton, alles im brutalistischen Stil der Nachkriegsmoderne.
An der Erscheinung der Nachbarschaft wird sich nicht viel ändern, die starren Kubaturen bleiben. Doch St. Agnes, jene Kirche in der Alexandrinenstraße, wird im Laufe des Jahres eine andere werden. Ein Gotteshaus ist sie schon jetzt nicht mehr. Der Berliner Galerist Johann König hat sie erstanden und plant hier ein Kunstquartier, mit dem 800 Quadratmeter großen Kirchenraum als Ausstellungshalle. Das angrenzende Gemeindehaus sowie die einstigen Wohnungen von Pfarrer, Küster und Kaplan sollen an Kreative und an die Gastronomie vermietet werden. Ein spektakuläres Projekt.
Unbekanntes Juwel
St. Agnes wurde vor sieben Jahren den Cross Continental Believers zur Miete überlassen, einer freikirchlichen Gemeinde. Doch dann begannen die Sanierungskosten, die Einnahmen zu überschreiten. Neben Johann König bewarben sich eine Supermarktkette und ein Wohnungsbauinvestor um den Komplex mit einer Gesamtfläche von 3562 Quadratmetern. Der 30-jährige Galerist machte das Rennen, denn mit ihm sei „die würdige Nutzung des Kirchenraums und des dazu gehörenden Ensembles nachhaltig sichergestellt“, freute sich der Sprecher des Erzbistums.
Die Neubestimmung ist ein Coup: Das zwischen 1964 und 1967 erbaute Ensemble stammt von Werner Düttmann, einem der Protagonisten des modernen Städtebaus im Nachkriegsdeutschland. Mit St. Agnes schuf der damalige Senatsbaudirektor ein architektonisches Juwel, das kaum bekannt ist. Das dürfte sich ändern, wenn die Galerie König im Frühjahr 2013 in der Kirche neu eröffnet.
Für die Kunst gemacht
Schon macht das Wort von der Berliner Turbinenhalle die Runde, in Anlehnung an das gewaltige Entree der Londoner Tate Modern im ehemaligen Kraftwerk. Der ähnlich reduzierte, eindrucksvolle Kirchenraum erhält sein Licht allein über zwei seitliche Fensterschlitze und Lichtbänder im Dach. Die meterhohen, grob verputzten Wände lagern auf Mauersteinen der einst benachbarten Trümmergrundstücke. Ein hoch pathetischer Ort, der die Wucht des Nichts – und ihre spirituelle Aufladung – zelebriert.
Noch steht der schlichte Granitaltar, die Kirchenbänke sind bereits ausgeräumt, die Orgel wartet auf einen Käufer. Aber schon beginnt der Raum sich neu zu definieren, der plötzlich wie gemacht für die Kunst erscheint. Die dramatische Leere erfordert kraftvolle Akzente. Königs Künstler – Michael Sailstorfer, Tatiana Trouvé, Kris Martin, Jeppe Hein, Tue Greenfort, Alicja Kwade – sind ohnehin für ihre starken skulpturalen Arbeiten bekannt, die sich auch in großen Ausstellungen wie der Documenta und wichtigen Sammlungen wie dem MoMA finden.
Gentrifizierung nicht zu stoppen
Auch die Topographie rundum beginnt sich neu zu sortieren. Was vorher als künstlerisches Niemandsland galt, rückt auf die Karte des Ausstellungsbetriebs. Berlinische Galerie und Jüdisches Museum liegen in der Nachbarschaft, das Atelier- und Veranstaltungshaus Aqua Caree, die Prinzessinnengärten am Moritzplatz, das Betahaus, das Galerienhaus Lindenstraße, das Aufbau-Haus sind nur einen Katzensprung entfernt.
Der Galerist will für rund 3 Millionen Euro sanieren. Zwar ist der Originalzustand des denkmalgeschützten Ensembles weitgehend erhalten, dennoch müssen Decken erneuert und Keller trockengelegt werden. Zudem will König architektonische Details wieder hervorholen und das größtenteils gegen Fliesen ausgetauschte Stirnholzparkett wieder einsetzen.
Mit St. Agnes entwickelt Johann König ein neues Geschäftsmodell, bei dem es neben der Kunst auch um die Immobilie geht. König ist Käufer, nicht Pächter auf mehrere Jahre. Auf diese Weise sichert er sich gegen Mietsteigerungen ab, die er und seine Kollegen mit jedem weiteren Umzug in der Stadt womöglich auslösen. Das Spiel dürfte sich auch jetzt wiederholen, wenn er seine aktuellen Ausstellungsräume unweit des GropiusBaus verlässt.
König folgt dem Trend internationaler Galerien, sich nicht nur großzügige Räumlichkeiten für immer raumgreifendere Werke zu suchen, sondern auch prägnante Adressen. Der vom Kreuz befreite Betonklotz auf dem Glockenturm von St. Agnes kündet künftig von Kunst.