Gerd Menge lehnt sich aus dem Fenster im siebten Stock. „Schön ist es hier geworden“, sagt er, „das fette Grün. Die Bäume, wie klein sie damals waren. Und jetzt? Groß und stattlich. Nur: Ein bisschen laut und dreckig ist es bei euch. Wie still und beschaulich wirkt dagegen unser Thüringer Wald.“ Gerd und Elfriede Menge sind aus dem beschaulichen Steinbach-Hallenberg, einem Thüringer Wintersportparadies, in die Hauptstadt gekommen. Sie wandeln auf alten Spuren und besuchen ihre einstige Wohnung am Leninplatz, in die sie 1970 ein- und 2000 ausgezogen waren.
Hier spiegelte sich ein zerissenes Land
Die meisten standen am 19. April 1970 im Schatten der vier Hochhäuser mit ihren 25, 21, 17 und elf Geschossen: Walter Ulbricht zog auf einer Großkundgebung mit 200 000 Berlinern an der Strippe, und unter gewaltigem Beifall fiel ein Tuch, das den 19 Meter hohen, aus rotem ukrainischen Granit aufgetürmten Namenspatron des Platzes freigab. Es durfte gestaunt, gelacht und angebetet werden. „In der Hauptstadt der DDR, inmitten Westeuropas, wird das Denkmal Lenins von der Sieghaftigkeit des Marxismus-Leninismus im sozialistischen Staat deutscher Nation künden“. Wow!
Gut zwanzig Jahre später hatte sich die Sieghaftigkeit zunächst einmal erledigt, und dem roten Komtur, der da unnahbar und volkesfern aus seinem Sockel wuchs, sollte es an den Kragen gehen, dem Namen „Leninplatz“ gleich mit. Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer von der CDU führte die Anti-Leninistencrew an, Lenins Fall wurde ein Gerichtsfall, die Erben von Bildhauer Nikolai Tomski klagten, die Volksseele schäumte, und Gerd Menge erinnert sich an die Für-und-wider-Plakate am Bauzaun, der inzwischen den Lenin vor der Begeisterung der Massen schützen sollte: „Hier spiegelte sich ein wahrlich zerrissenes Land“.
Mal demonstrierten die Linken, dann wieder die Konservativen, „einmal klingelte das Telefon, am anderen Ende waren Freunde in Amerika: ‚Hat bei euch die nächste Revolution begonnen?'“
Nach der Wende kam heraus, wie der Rote Riese überhaupt an diesen Platz kam. Der Moskauer Bildhauer Tomski, der Lenin am Fließband fertigte, wurde von der DDR-Führung auserkoren. Es musste alles hier mächtig gewaltig und bolschoi sein – und nicht, wie sich das Hermann Henselmann und sein Kollektiv vorgestellt hatten.
Eine kreisrunde leninlose Stelle
Sie wollten ursprünglich den Lenin ganz anders haben: „Mit leichter Ironie“ erzählte uns der Star-Architekt 1991: „Da sollte eine Bibliothek hin, und in deren kleinen Innenhof wollte ich den Lenin setzen. Er sollte aus Wachs sein, mit richtigem Haar, und innen sollte er eine Mechanik haben. Jeder DDR-Bürger, der vorbeikommt, könnte in einen Schlitz eine Mark werfen, und dann hätte der Lenin, natürlich auf Deutsch, mit dem Titel seiner Schrift gefragt: ‚Was tun?‘ (Schto djelatch?). So etwas regt doch manchen vielleicht zum Denken an. Besucher aus dem Westen müssten schon fünf Mark spendieren, dafür wäre dann vom Lenin ein längerer Satz gesprochen worden. Im Laufe der Zeit wäre ein beträchtliches Sümmchen zusammengekommen“. Henselmann, das Schlitzohr. Er wollte auf keinen Fall den Blick zum grünen Friedrichshain verstellt haben, „aber dann kam dieser unsägliche Bildhauer aus Moskau und nörgelte an der Gestaltung der Fenster herum – ich konnte den noch nie leiden. Die Politiker hatten ja keinen Geschmack und waren ziemlich dämlich“.
Die mit Bierernst getränkte Posse um Lenins Zukunft hatte 1991 mit dem Abtransport des zerstückelten Denkmals ein Ende. Im Film schwebt olle Lenin davon, nach 25 Jahren taucht der Kopf wieder auf – in Spandau soll er zur Schau gestellt werden und so wenigstens im tiefen Westen daran erinnern, dass es im Osten einmal einen Leninplatz gab. Familie Schade, die Nachfolger in Menges Wohnung, blickt aus ihrer Loggia direkt auf die kreisrunde leninlose Stelle.
Wo Lenin stand, da plätschern jetzt Mini-Fontänchen
Durch den Platz rauscht der Verkehr, „hier freuen sich die Alteingesessenen, wenn sich die Stadt auch hier verjüngt und plötzlich ein Kinderwagen im Hausflur steht“, sagt Sigrid Schade. Mehr als 4000 Leute wohnen in den 1250 Wohnungen, viel hat sich im Äußeren nicht verändert. Die einstige HO-Kaufhalle ist ein bis 22 Uhr leuchtendes Schlaraffenland.
Wo Lenin stand, da plätschern jetzt Mini-Fontänchen aus fünf Findlingen, die die Kontinente symbolisieren. Das war offenbar die einfachste Lösung. Eigentlich sollte es ein Klein-Venedig werden, mit Spreekanal, Gondeln und Punkthochhäusern als Garnitur. Aber was wurde nicht schon alles gedacht, aber nicht gemacht. Geblieben sind attraktive steinerne Hüllen und ihr Innenleben. Landsberger Platz? Leninplatz? Platz der Vereinten Nationen? Namen sind Schall und Rauch.