Tyll – Daniel Kehlmann
Wer hier ein munteres Schelmenstück erwartet, wird enttäuscht. Denn Daniel Kehlmanns Roman Tyll ist so düster wie der Dreißigjährige Krieg, so bitter wie das Leben im Mittelalter und das Einzige was ihm fehlt, sind alberne Schenkelklopfer. Aber genau deswegen ist der Roman jede Empfehlung wert: Die Geschichte von Tyll Ulenspiegel ist die eines Mannes, der als Gaukler überlebt und als Berühmtheit in seinem Fach die Menschen ungestraft mit Wahrheiten konfrontieren darf. Das ist manchmal lustig, manchmal ganz schön hart, aber auf jeden Fall Stoff genug für ein packendes Buch, das zwischen Fiktion und Historie eine eigene vielschichtige Geschichte entwickelt – sprachlich brillant und im besten Sinne unterhaltsam.
Tyll von Daniel Kehlmann ist im Rowohlt Verlag erschienen und für 12 Euro im Handel erhältlich.
Vater unser – Angela Lehner
Eva Gruber ist niemand, dem man trauen sollte. Die kluge junge Frau, die zu Beginn des fulminanten Romans Vater unser in die Psychiatrie eingeliefert wird, manipuliert alle und jeden. Ihre Ansichten sind oft unfassbar, aber trotzdem nachvollziehbar. Die österreichische Wahlberlinerin Angela Lehner erzählt in ihrem Erstlingswerk von einer zerrütteten Familie, von Problemen, von Magersucht und Gewalt, von Phantasien und Realitäten, aber sie macht das so schnörkellos und überwältigend anders als jede(r) andere Autor*in es tun würde, dass man das Buch am liebsten immer weiter lesen würde, obwohl man sich nach einem Ende sehnt, das uns vor Eva Gruber schützt. Grandios.
Vater unser von Angela Lehner ist bei Hanser Berlin erschienen und für 22 Euro im Handel erhältlich.
Alles Gute: Die Welt als Speisekarte – Christian Seiler
711 Seiten Speiseführer, 98 Seiten Foodie-Kolumnen und 4 Seiten Kochbuch – das sind die Ingredienzen von Christian Seilers Alles Gute. Der österreichische Journalist schlemmt sich um die Welt, schreibt darüber in diversen Magazinen und eben auch gelegentlich in Büchern. Sein neuestes Werk nennt er ganz bewusst nicht Bilanz, sondern Programm: 54 beschriebene Reisen führten ihn von A wie Adelaide bis Z wie Zürich. Da stand er schon mal in Marrakesch ohne Unterwäsche vor einem Grafen oder spaziert mit Überkoch Massimo Bottura, der mit seiner Osteria Francescana die World’s 50 Best anführt, durch Modena. In Berlin speiste Seiler auch. Tim Raues Kochkunst hinterließ bei ihm allerdings keinen bleibenden Eindruck. Sein Buch mit satten 813 Seiten schon.
Alles Gute: Die Welt als Speisekarte von Christian Seiler ist im Echtzeit verlag erschienen und für 43 Euro im Handel erhältlich.
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Wer die Lüge kennt – Beate Vera
Passend zur Jahreszeit gibt es Beate Veras vierten Regionalkrimi rund um den Privatdetektiv und Ex-Polizisten Martin Glander und dessen Lebensgefährtin Lea Storm. Die beiden wohnen in Lichterfelde nahe des Mauerwegs, wo auch die Handlung hauptsächlich angesiedelt ist. Während Glander mit seiner Kollegin Merve Celik inmitten des Berliner Winters wegen zwei brutalen Morden an obdachlosen Frauen ermittelt, trifft Lea Storm ihre erste große Liebe wieder und ist davon gar nicht begeistert. Die beiden starken Handlungsstränge über das hochaktuelle Thema Obdachlosigkeit und den Dauerbrenner Beziehungsprobleme funktionieren sehr gut zusammen und bauen ordentlich Spannung auf. Mit Wer die Lüge kennt spielt Beate Vera in der Liga der Provinzkrimis sehr weit oben mit.
Wer die Lüge kennt: Ein Provinzkrimi aus Berlin von Beate Vera ist im Jaron Verlag erschienen und für 9,95 Euro im Handel erhältlich.
Blackbird – Mathias Brandt
Für einen 15-Jährigen sollte die Welt noch in Ordnung sein – trotz Pubertät. Mathias Brandts Protagonist Morten Schumacher, genannt Motte, muss allerdings einiges aushalten: die Krankheit seines besten Freundes, die erste Liebe, die Trennung seiner Eltern, die 70er-Jahre, den Tod. Trotz dieser Zutaten ist Brandts Werk kein klassischer Coming-of-Age-Roman, sondern hält auch Denkenswertes für die ältere Generation bereit, auch wenn die sich an die rotzige Sprache des Ich-Erzählers gewöhnen muss.
Blackbird von Mathias Brandt ist im Kiepenheuer & Witsch erschienen und für 22 Euro im Handel erhältlich.
Wir von der anderen Seite – Anika Decker
Es ist nicht leicht, aus einem traurigen Schicksalsschlag ein unterhaltsames Buch zu machen, aber Anika Decker schafft das spielend. In Wir von der anderen Seite verarbeitet sie mit feinem Humor, einem treffsicherem Gespür für das Wesen komplexer Szenen (kein Wunder, Decker ist erfolgreiche Drehbuchautorin), Gedankenklarheit und Taschentuch-Potential ihre eigene Krankheitsgeschichte. Ihr Alter Ego – das sie natürlich mit künstlerischer Freiheit gestaltet hat – heißt Rahel Wald. Die findet sich mit Mitte 30 auf der Intensivstation wieder, hilflos, von Albträumen gequält, aus dem Alltag gerissen. Nicht nur ihr Körper muss sich erholen, sondern auch ihr Geist. Was war vor ihrem Zusammenbruch? Was wird jetzt? Was will dieses winkende Eichhörnchen? Trotz der schweren Thematik ist es kein ödes Sinn-des-Lebens-Buch, sondern ein Roman, der berührt.
Wir von der anderen Seite von Anika Decker ist im Ullstein Verlag erschienen und für 20 Euro im Handel erhältlich.
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Marzahn, mon amour – Katja Oskamp
Wir können uns glücklich schätzen, dass die Midlife-Crisis Katja Oskamp in ein Nagel- und Fußpflegestudio in Marzahn verschlagen hat. Nur so konnte die Schriftstellerin und (neuerdings) Fußpflegerin all die Menschen treffen, die sie uns in Marzahn, mon amour vorstellt. Das Buch ist eine Sammlung von Kurzportraits ihrer Kundschaft aus der Platte und den Gärten drumherum. Lustige, sympathische, inspirierende und eigenartige Gestalten lernen wir in je einem Kapitel kennen – authentisch und ungeschönt, verpackt in immer treffende Worte. Den Rahmen drumherum spannt Katja Oskamp mit Einblicken ins Leben einer Fußpflegerin. Ein kurzweiliges Buch für die Bahnfahrt oder die Pause zwischen Gänsebraten und Stolle, für Berliner*innen und alle, die unseren Dialekt lieben.
Marzahn, mon amour: Geschichten einer Fußpflegerin von Katja Oskamp ist bei Hanser Berlin erschienen und für 16 Euro im Handel erhältlich.
Der Ursprung der Welt – Ulrich Tukur
Ulrich Tukur gehörte schon als Tatort-Kommissar Murot dank seines brillanten Schauspiels und des komplexen Charakters definitiv zu unseren Lieblingen. In seinem neuen Buch spürt man seinen Feingeist durch jeden Satz hindurch. Der Ursprung der Welt handelt von dem geheimnisvollen Charakter Paul Goullet, der in einer zunehmend gefährlichen und allzu nahen Zukunft lebt, als in Deutschland das Chaos herrscht. Als er ein Bild von sich aus den 20er Jahren entdeckt, begibt er sich auf die Suche und in ein brisantes Abenteuer. Gerade seine immer stärker werdenden Visionen aus der Vergangenheit des Ersten Weltkriegs werfen beunruhigende Parallelen zu heutiger Überwachung und geopolitischen Zuständen auf. Ein fein geschriebener Krimi, der gerade auch Liebhabern von Klassikern und Dystopien gefallen dürfte.
Der Ursprung der Welt von Ulrich Tukur ist bei S. Fischer erschienen und für 22 Euro im Handel erhältlich.
Die Leben der Elena Silber – Alexander Osang
Russland zu Zeiten der Revolution: Im Mittelpunkt steht die Familiengeschichte der Familie Silber, deren Leben in einem beschaulichen Dorf mit der Hinrichtung ihres Familienvaters, eines Seilers und Revolutionärs, zersprengt wird. Die Tochter Elena, eine der Hauptfiguren, verschlägt es mit ihrem deutschen Mann später auf der Flucht nach Berlin, Schlesien und wieder Berlin – mitten hinein in die Wirren des Zweiten Weltkriegs und Nachkriegsdeutschlands. Ihre fünf Töchter werden in unterschiedlichen Städten geboren und haben diese historisch turbulente Zeit alle anders erlebt. Zwanzig Jahre nach dem Tod seiner Großmutter Elena erforscht Enkel Konstantin, der „sein Thema“ für ein Drehbuch sucht, nun die mysteriösen Erinnerungsfragmente seiner Verwandtschaft und das Verschwinden seines Großvaters. Er will die Geschichte des Jahrhunderts und seiner Familie verstehen, um sich selbst zu verstehen. Ein schönes, packendes Familien-Epos für gemütliche Lesestunden.
Die Leben der Elena Silber von Alexander Osang ist bei S. Fischer erschienen und für 24 Euro im Handel erhältlich.
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Gott wohnt im Wedding – Regina Scheer
Was würden wohl Häuser erzählen, wenn sie sprechen könnten? Im neuesten Roman von Regina Scheer findest du es heraus. Das alte Gebäude in der Utrechter Straße erzählt über ein Jahrhundert von Schicksalen und Lebensgeschichten seiner Bewohner. Zum Beispiel Leo, der nach 70 Jahren aus Israel nach Deutschland zurückkehrt, obwohl er das eigentlich nie wollte. Mit dabei seine Enkelin Nira, die sich dort in den Imbissbesitzer Amir verliebt. Oder die alte Gertrud, die Leo 1944 in ihrem Versteck auf dem Dachboden entdeckt hat. Alle sind sie untereinander und schicksalhaft mit dem ehemals roten Wedding verbunden – und mit diesem Mietshaus, das zwischendrin immer mal wieder zu Wort kommt. Regina Scheer hat das Leben ihrer Protagonisten zu einem literarischen Epos verwoben. Ein fesselndes und auch rührendes Buch über Berlin und natürlich vor allem den Wedding.
Gott wohnt im Wedding von Regina Scheer Gott ist bei Penguin erschienen und für 24 Euro im Handel erhältlich.