Graphic Novel im Berlin der 80er

Hippies, Hausbesetzer und Haftbefehle

Szenetreff früher und heute: Die Schaubühne.
Szenetreff früher und heute: Die Schaubühne. Zur Foto-Galerie
In Westend – Berlin 1983 geht’s ab: V-Mann Otto ermittelt unter militanten Krishna-Jüngern, liefert sich eine Verfolgungsjagd am Hermannplatz, säuft in der Schaubühne. Viel Berlin, viel Spaß, ein bisschen Spannung: fast alles drin in der Graphic Novel. Fast.

Eines vorab: Nach dem Attentat in Berlin ist es nicht einfach, die Graphic Novel Westend frei von der Leber zu besprechen. Warum? Das Setting: Terror. Der Schauplatz: Westberlin. Kudamm, Gedächtniskirche, das Irish-Pub-Schild auf der Budapester Straße: Die Bilder, die gerade um die Welt gingen, hat Zeichner Jörg Mailliet detailversessen im Buch festgehalten. Der Plot ist fiktiv, die Orte nicht. Gegenwärtig sind sie wieder Zeugen von Terror, was dem Buch eine traurige, zeitgemäße Aktualität verleiht. Leider.

Die Graphic Novel ist nach Gleisdreieck  das zweite Werk vom Autoren- und Zeichner-Duo Jörg Ulbert und Jörg Mailliet . Ein verdeckter Ermittler, linker Terror, Berlin: Gleiche Hauptfigur, gleiches Thema, gleicher Schauplatz. Westend macht da weiter, wo Gleisdreieck aufgehört hat, setzt die Lektüre des Vorgängers aber nicht voraus. Soweit, so praktisch. Wie auch schon in Gleisdreieck ist der eigentliche Main Act des Buches nicht der Plot – wenngleich raffinierter als im Vorgänger –, sondern die Stadt: Das Buch ist eine Dokumentation von West-Berlin Anfang der 1980iger, eingefangen in minutiös Straßenzügen und dem prototypischen Personeninventar (Linke, Hippies, Verrückte, Punks) dieser Zeit – und im Grunde ja auch noch von heute.

Wer damals nicht hier gelebt hat – im Gegensatz zu den fachkundigen Autoren – weiß nach dem Durchblättern, wie es vor über 30 Jahren zwischen Kreuzberg und Zehlendorf, an Szeneorten und in Drogen-Kneipen, wohl abgegangen sein mag.

Berliner Szenen am Fehrbelliner Platz. ©Berlin Story Verlag / Jörg Mailliet & Jörg Ulbert

Die Story ist schnell erzählt: Otto ermittelt verdeckt in der linksradikalen Hippie-Szene. Will heißen: Er säuft, tanzt und besucht Meditationskurse, pendelt zwischen Szenekontakten und BKA-Führungsoffizieren. Skurrile Typen und 1980iger-Slang sind oft zum Lachen, dazu subtiler Sarkasmus. Zum Beispiel: V-Mann Otto interessiert sich, um mit der Szene zu connecten, für einen Kurs im linken Meditationszentrum. Eine Hippiefrau (= Ma) berät ihn. Einstieg: „Die Ma passte ins Bild: Doof wie Ostbrot. Aber hatte Mutterwitz. Ma: „Diese Woche noch: Empirisches Ayurveda und Anthroposophie und Technik. Am Freitag dann noch Amaroli als satori.“ Otto: „Wassn das?“ Ma: „Erleuchtung durch Eigenurintherapie. Pipi saufen, mit Hundert noch Dauerlaufen.“ Ha ha.

Weniger witzig ist das Behörden-Kuddelmuddel. In der linken Szene ermitteln BKA, Verfassungsschutz, Doppelagenten. Alle auf einmal, jeder gegen jeden. Man muss schon ganz schön aufpassen, um hier noch durchzublicken. Aber genau das ist die Zumutung des Buches, die sein muss: Auch in der Wirklichkeit verhielt und verhält es sich bisweilen so. Im Epilog, auf der letzten Seite, hat Autor (und Historiker) Ulbert die Referenzen zu historischen Ereignissen erklärt: Die Ermordnung des Studenten Ulrich Schmücker, die sich anschließende Justiz-Farce, das undurchsichtige Spiel des Verfassungsschutzmitarbeiters Michael Grünhagen. Interessant, informativ, eine Geschichts-Lektion zum Kopfschütteln.

Ein Berlin-Comic mit Potential zur Chronik

Das Zusammenspiel von Text und Bild funktioniert astrein – der eine witzig, süffisant, Slang-Vokabular und das andere en Detail gezeichnete Architektur, raffinierte Bildausschnitte, unerwartete Perspektivwechsel. Jedem Kapitel ist ein etwas kryptischer Paratext vorangestellt, dazu jedes Mal eine andere Berliner Skyline. Blättert man nicht direkt weiter, gehen die Gedanken zwischen den Häuserschichten auf Wanderschaft.

Zu Gleisdreieck sagten die Autoren, sie hätten schlicht keinen Bock mehr darauf, den Leuten ständig zu erklären wie Berlin in den 70iger und 80iger Jahren gewesen sei. Deshalb der Erstling. Im Nachfolger machen sie genauso weiter, Berlin-Atmo en Masse. Und es funktioniert. Einziger Fail: Bei dem Setting hätte man sich schon ein bisschen mehr Sex und Drugs gewünscht – im Buch quasi nicht präsent.
Kreuzberg 1993, Oranienplatz 2012 oder Rigaer Straße 2016: Hier mal ein paar Vorschläge für Folgetitel. Denn: Die Autoren sollten eine Serie daraus machen – unter der Prämisse, dass sich das Duo jedes Mal ein wenig steigert.


Westend – Berlin 1983 von Jörg Mailliet und Jörg Ulbert, 128 Seiten, Berlin Story Verlag, 24,95 Euro.

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Bei diesem Dach erklärt sich der Spitzname der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von selbst: "Hohler Zahn".

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