Tour im Regierungsviertel

Altbekanntes neu entdecken

Reichstag
Regierungsviertel - Durchgetapst, im Hintergrund eingefangen oder von hinten geknipst: Die Zahl der Touri-Schnappschüsse, auf denen man nebst Brandenburger Tor, Reichstag oder Mauerresten unfreiwillig zum Statist wird, liegt locker im zweistelligen Bereich. Bucht man eine Stadtführung bei Elke Tesche, wird man in der eigenen Stadt zum Touri auf Zeit. Was sonst eher vermieden wird – Tummeln vor Touri-Magneten, Lümmeln vor Luxus-Hotels – wird in Begleitung von der Stadtführerin zum informativen Event.

Schon zu Beginn der Tour wird’s kurios-informativ: Wir stehen auf dem Pariser Platz und philosophieren über die notdürftige Toilettensituation in Berlin. In der einigermaßen nahe gelegenen Humboldt-Uni könne man gehen, auch die am Platz gelegene Akademie der Künste habe zugängliche Toiletten, weiß Tesche. Und sie weiß noch viel mehr: Der verhältnismäßig noch recht leere Platz ist so schön sauber, „weil er bei der BSR die Reinigungsklasse eins hat“. Allein das Tor wird dreimal täglich gesäubert. Unwillkürlich fragt man sich nach der Reinigungsstufe des eigenen Bezirks. Minus Einhundert für Neukölln?

Liebermann am Brandenburger Tor

Lange hängt man den eigenen Gedanken aber nicht nach, denn die gebürtige Saarländerin feuert eine Info nach der anderen ab. Sie hat Fakten zu jedem Gebäude am Platz, ihren Fokus setzt sie den Nachfragen entsprechend. Erst zitiert sie Max Liebermann: „Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.“, dann liefert sie Fakten zu dessen ehemaliger Wohnstädte zur Rechten vom Brandenburger Tor.

Obwohl Tesche, die 1988 nach Berlin kam, mittlerweile mehr als die Hälfte ihres Lebens in hier wohnt, verweigert sie den Nimbus des „fast schon Ur-Berliner-Seins“ entschieden. Sie weiß, wie die Uhren in der Hauptstadt ticken.

Was Berliner im Alltag oft links liegen gelassen oder reichlich abgestumpft übersehen, bekommt hier die wohlverdiente Aufmerksamkeit. Vorbei am „Raum der Stille“ im Brandenburger Tor geht’s Richtung Reichstag. Für historisch und geographisch Desorientierte hat die Stadtführerin immer eine alte Berlinkarte dabei: Das hilft bei der Verortung zwischen Ost- und West. Vorm Reichstag und im Regierungsviertel gibt es auch wieder eine Ladung geballtes Wissen, garniert mit privaten Erlebnissen: „Hier habe ich 1988 mal Pink Floyd gesehen“. Neid kommt auf.

Es ist nicht wie im Geschichtsunterricht, ganz im Gegenteil, die altehrwürdigen Monumente werden lebendig und greifbar. Das gilt auch für die Neubauten im Regierungsviertel. Man erfährt, dass das Jakob-Kaiser-Haus mit rund 720 Millionen Euro Baukosten der teuerste Verwaltungsneubau der BRD ist.

Ausbildungsberuf: Stadtführerin

Unterwegs erzählt Elke Tesche, dass sie ausgebildete Stadtführerin ist. Man staunt nicht schlecht, dass es das überhaupt gibt – eine Ausbildung als Stadtführerin. Kunden hatte sie schon viele – von Senioren-Vereinen bis hin zu Schulklassen und Liebespaaren war alles schon dabei. Spannend seien die unterschiedlichen Dynamiken der Gruppen: Gerade jüngere Schulklassen fragten noch so herrlich naiv und ohne Scham – oder Wissen: Erst letztens musste sie auf ihrer alten Berlinkarte erklären, was denn die Sowjetunion sei.

Die Tour macht einen weiteren Halt am Holocaust-Mahnmal. Auf einem Stein sitzend, hört man Schreie von Schulklassen, die sich im Wirrwarr der Stelen gegenseitig erschrecken. Und tatsächlich. Der Schrecken ist hier allgegenwärtig. „Durch die 95 cm breiten Gänge können sie nur alleine gehen“. Im Wirrwarr der Betonklötze erzeugt das ein Gefühl von Einsamkeit und Verlorenheit.

Die letzte Station ist nach über zwei Stunden der Potsdamer Platz. Wir tauchen ein in die Historie des Platzes und imaginieren die Goldenen 1920er, als das berüchtigte Hotel Esplanade die High-Society der Stadt beherbergte. Damals habe es hier unfassbare 29 Straßenbahnlinien gegeben.

Auf dem Nach-Hause-Weg sacken die Infos. In pathetischer Stimmung wird man sich mit Nachdruck gewahr, in was für einer fantastischen und bedeutsamen Stadt man lebt. An der Rolltreppe angekommen verstopfen Touris den Durchgang. NERV! Alles klar, der Seitenwechsel ging schneller als erwartet. Aber so ist der Berliner – und ja: DAS dürfen auch Zugezogene für sich beanspruchen – nun mal.

Alle Touren, Preise und Infos gibt’s hier.

 

    „Elke Tesches Stadtführungen bei „Kreuz und Quer Berlin“ sind deshalb so toll, weil sie sich von stark durchkommerzialisierten Normalo-Touren unterscheiden. Wenn sich mal wieder elterlicher Besuch ankündigt, werde ich diesen guten Gewissens für zwei Stunden bei Elke parken.“

Pariser Platz, Pariser Platz 7, 10117 Berlin

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